Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
Sperber. »Egal, wie alt er sein mag, er ist nicht erwachsen geworden.« Er beschrieb kurz den Vorfall im Wald.
»Das hilft uns sicher weiter!« sagte Fontan. »Es ist noch keinem meiner Leute gelungen, sich bei einer seiner berüchtigten Versammlungen einzuschleichen, deshalb hatten wir keine Ahnung, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben. Er hat die Aristokratie jedenfalls völlig in der Hand. Vor ein paar Wochen konnte ich Alberen im letzten Moment davon abhalten, eine Proklamation zu unterzeichnen, die jeden geflohenen Leibeigenen zum Verbrecher gestempelt hätte. Das wäre das Ende des Reichs gewesen, glaube ich. Denn bisher war die Flucht für einen Leibeigenen der letzte Ausweg aus einer unerträglichen Situation. Wenn er fliehen und sich ein Jahr und einen Tag verbergen kann, ist er frei. Nähme man den Leibeigenen diese Möglichkeit, würden sie rebellieren, und ein Aufstand der Leibeigenen ist eine zu schreckliche Vorstellung, um sie auch nur in Erwägung zu ziehen.«
»Ein solcher Aufstand ist aber geplant, Exzellenz«, klärte Sperber ihn auf. »Säbel will hier in Astel eine Rebellion der Leibeigenen und wiegelt sie auf. Er hat seinen Einfluß auf die Edelleute benutzt, sie genau zu jenen Taten anzustiften, welche die Leibeigenen auf die Barrikaden bringen.«
»Was hat dieser Mann nur vor?« empörte sich Fontan. »Er wird ganz Astel in Blut ertränken!«
Sperber brachte es auf den Punkt. »Ich glaube nicht, daß er sich das geringste aus Astel macht, Exzellenz. Säbel ist lediglich das Werkzeug von jemandem, der sich ein viel größeres Ziel gesetzt hat.«
»Ach? Und was ist das?«
»Ich kann nur raten, Exzellenz. Aber ich glaube, es gibt da jemanden, der sich die ganze Welt unterwerfen will. Und er würde bedenkenlos Astel und jeden einzelnen Asteler opfern, um zu bekommen, was er erstrebt!«
12
»Es ist schwierig, die Sache auf den Punkt zu bringen, Prinz Sperber«, sagte Baroneß Melidere an diesem Abend, nachdem sich die königliche Familie und deren engste Vertraute in ihre geräumige Gemächerflucht zurückgezogen hatten. Auf den ausdrücklichen Wunsch der Königin waren auch Melidere, Mirtai und Alean hier Zimmer überlassen worden. Ehlana brauchte aus mehreren Gründen – aus praktischen, politischen und einigen sehr obskuren – Frauen um sich. Die Damen hatten sich ihrer Prunkgewänder entledigt und waren, mit Ausnahme von Mirtai, in bequeme, pastellfarbene Nachtgewänder geschlüpft. Melidere bürstete Mirtais dichtes blauschwarzes Haar, und die rehäugige Alean die aschblonde Haarpracht Ehlanas.
»Ich weiß nicht so recht, wie ich es beschreiben soll«, fuhr die honigblonde Baroneß fort. »Es ist eine Art allgemeine Traurigkeit. Schaut euch nur die Gesichter an!«
»Das ist mir auch aufgefallen, Sperber«, wandte Ehlana sich an ihren Gemahl. »Alberen hat kaum gelächelt, und ich kann wirklich jeden zum Lächeln bringen.«
»Allein Eure Anwesenheit genügt, ein Lächeln auf unsere Lippen zu zaubern, meine Königin«, versicherte Talen ihr galant. Er gehörte als Ehlanas Page zur erweiterten königlichen Familie. Der junge Dieb war heute ungemein elegant in einen pflaumenfarbenen Samtwams und eine Kniehose aus demselben Stoff gekleidet. Kniehosen kamen zur Zeit in Mode, und Ehlana hatte alles mögliche versucht, ihren Gemahl zu überreden, in eine solche zu schlüpfen. Nachdem Sperber sich kategorisch geweigert hatte, war der Königin nichts anderes übriggeblieben, als ihren Pagen zu zwingen, eines dieser lächerlichen Kleidungsstücke zu tragen.
»Man möchte einen Ritter aus dir machen, Talen«, sagte Melidere anzüglich, »keinen süßholzraspelnden Höfling.«
Talen zuckte die Schultern. »Stragen sagt, daß es immer gut ist, sich für den Notfall eine Ausweichmöglichkeit offenzuhalten, Baroneß.« Seine Stimme schwankte zwischen Sopran und Bariton.
Die Baroneß rümpfte die Nase. »Das sieht ihm ähnlich!« Sie ließ kein gutes Haar an Stragen, doch Sperber hatte seine Zweifel an Melideres zur Schau gestelltem Mißfallen.
Talen und Prinzessin Danae saßen auf dem Boden und rollten einen Ball zwischen sich hin und her. Murr beteiligte sich begeistert an diesem Spiel.
»Offenbar glauben alle insgeheim, die Welt geht übernächste Woche unter.« Die Baroneß zog langsam die Bürste durch Mirtais Haar. »Nach außen hin geben die Leute sich heiter, aber sobald man sie näher beobachtet, erkennt man, wie schwermütig sie in Wirklichkeit sind. Und alle geben sich
Weitere Kostenlose Bücher