Tamuli 2 - Das leuchtende Volk
dasselbe von mir hältst? Ich habe eine Zeitlang in Sarsos gelebt. Viele der dort ansässigen Styriker sahen in mir eine minderwertige Lebensform. Warst du ihrer Meinung? Hast du mich nur als eine Art Haustier gehalten – als Hündchen vielleicht? Oder als zahmen Affen, den du zu deinem Ergötzen um dich haben wolltest? Es geht um eine Frage der Ethik, Sephrenia. Wenn wir irgend jemandem das Menschsein absprechen, öffnen wir unvorstellbarem Grauen Tür und Tor. Siehst du das nicht ein?«
»Die Delphae sind anders!«
» Niemand ist anders. Das müssen wir glauben. Wenn wir es nicht tun, leugnen wir unsere eigene Menschlichkeit. Warum willst du das nicht verstehen?«
Sephrenias Gesicht war unsagbar bleich. »Das hört sich ja alles sehr hochtrabend und edel an, Vanion, aber es hat rein gar nichts mit den Delphae zu tun! Du hast nicht die geringste Ahnung, wer oder was sie sind! Infolgedessen kannst du gar nicht wissen, worüber du redest. Du bist bisher immer zu mir um Rat gekommen, wenn deine Unwissenheit dich in Gefahr brachte. Gehe ich recht in der Annahme, daß dies in Zukunft nicht mehr der Fall sein wird?«
»Sei nicht albern.«
»Ich meine es durchaus ernst. Wirst du mich in dieser Sache übergehen? Wirst du dich mit diesen monströsen Aussätzigen verbünden, egal, was ich dir sage?«
»Wir haben in dieser Angelegenheit keine Wahl, siehst du das nicht ein? Bhelliom sagt, daß wir unterliegen werden, falls wir dieses Bündnis nicht eingehen, und wir dürfen nicht unterliegen. Ich glaube, das Schicksal der ganzen Welt hängt davon ab.«
»Offenbar brauchst du mich nicht mehr. Es wäre zuvorkommend von dir gewesen, wenn du es mir gesagt hättest, bevor ihr mich in dieses verfluchte Tal mitgeschleppt habt. Aber es war wohl von Anfang an dumm von mir, von einem Elenier auch nur ein Mindestmaß an Höflichkeit zu erwarten. Sobald wir wieder in Matherion sind, werde ich zusehen, daß ich nach Sarsos zurückkehren kann, wohin ich gehöre.«
»Sephrenia…«
»Nein! Ich will nichts mehr darüber hören. Ich habe dem pandionischen Orden dreihundert Jahre treu und gut gedient, und ich danke dir für deine großzügige Entlohnung meiner Jahre der Plackerei. Wir sind fertig miteinander, Vanion. Dies ist das Ende. Ich hoffe, du wirst den Rest deines Lebens glücklich sein. Doch ob glücklich oder nicht – du wirst diese Jahre ohne mich verbringen müssen.« Sie drehte sich um und rauschte erhobenen Hauptes aus dem Raum.
»Es wird sehr gefährlich sein, Anari«, warnte Itagne, »und Xanetia ist die bedeutendste Persönlichkeit Eures Volkes. Haltet Ihr es für ratsam, ihr Leben in Gefahr zu bringen?«
»Wahrlich, Itagne von Matherion«, entgegnete der Greis, »Xanetia bedeutet uns allen sehr viel, denn sie wird Anarae werden. Aber sie ist auch die Begabteste, und es könnte wohl sein, daß gerade ihre Begabung bei der entscheidenden Begegnung mit unserem gemeinsamen Feind das Zünglein an der Waage sein wird und sie zu unseren Gunsten neigt.«
Sperber, Vanion und Itagne waren vor ihrer Abreise aus dem Tal der Delphae zu Cedon gebeten worden. Es war ein schöner Herbstmorgen. Ein Hauch von Reif auf der Wiese schmolz rasch in der Morgensonne, und der Schatten unter den ausladenden Ästen der Nadelbäume jenseits der Wiese war von einem tiefen Blau.
»Ich wollte nur darauf hinweisen, Anari«, fügte Itagne hinzu. »Denn trotz ihrer Pracht ist Matherion eine Stadt voller verborgener Gefahren – mit rücksichtslosen, unwissenden Menschen, die voller Vorurteile sind und keineswegs freundlich reagieren werden, wenn sie eine Delphae in ihrer Stadt sehen. Eure sanftmütige Xanetia ist noch sehr jung und unerfahren. Daß sie zu den Leuchtenden gehört, wird sie in gewissem Maße vor offenen Gewalttätigkeiten schützen, aber seid Ihr bereit, sie all den Verwünschungen, den Schmähungen und sonstigen Angriffen auszusetzen, die sie dort zweifellos erwarten?«
Der Anari lächelte. »Ihr schätzt Xanetia völlig falsch ein, Itagne von Matherion. Erscheint sie Euch wirklich so kindlich? Würdet Ihr Euch besser fühlen, wenn ich Euch versichere, daß sie das erste Jahrhundert ihres Lebens längst hinter sich hat?«
Itagne starrte erst Cedon an, dann Xanetia, die ruhig am Fenster saß. »Ihr seid ein eigenartiges Volk, Anari. Ich habe sie für nicht mehr als sechzehn gehalten.«
»Es ist unhöflich, nach dem Alter einer Dame zu fragen, Itagne von Matherion.«
Der Tamuler verbeugte sich höfisch. »Verzeiht mir,
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