Tamuli 3 - Das Verborgene Land
aus.«
Sie eilten weiter dahin und befanden sich bald über dem dichten grünen Dschungel, der die Südostküste des Kontinents bedeckte.
»Wir werden jetzt etwas tiefer gehen«, warnte Aphrael. »Ich will mich an Delo orientieren. Dann biegen wir nach Südwesten ab, um Natayos zu erreichen.« »Werden wir vom Boden aus nicht gesehen?« fragte Xanetia.
»Nein, obwohl es eine interessante Vorstellung ist. Dein Licht würde den Leuten zu denken geben. Neue Religionen könnten entstehen, würden Menschen Engel über ihren Köpfen vorüberfliegen sehen. – Dort ist Delo!«
Die Hafenstadt sah wie ein Kinderspielzeug aus, das achtlos an der Küste des tiefblauen Tamulischen Meeres liegen gelassen worden war. Die Gefährten bogen jetzt nach Südwesten ab und folgten, allmählich tiefergehend, der Küste, bis sie den Dschungel erreichten.
Aphrael spähte angestrengt in das dichte Grün. »Dort!« rief sie triumphierend. Vielleicht wäre es schwieriger gewesen, die Ruinenstadt zu finden, hätten nicht Scarpas Soldaten das nördliche Viertel vom Dickicht und den Bäumen freigeräumt, die den Rest der uralten Stadt überwucherten. Die grauen Steine der halb verfallenen Häuser zeichneten sich scharf im Licht des Sonnenaufgangs ab, und die frisch geräumte Straße, die sich in Nordrichtung erstreckte, erschien wie eine ins dunkle Grün des Dschungels gehauene gelbe Narbe. Die Gefährten setzten etwa eine Viertelmeile nördlich der Ruinen sanft auf dieser Straße auf. Sperber führte Aphrael und die Anarae sofort gut hundert Schritt in das dichte Unterholz. Jeder Nerv war vor Erregung angespannt. Falls Kalten recht hatte, befand er sich keine Meile mehr von dem Haus entfernt, in dem Ehlana gefangengehalten wurde.
»Geh schon voraus, Xanetia«, forderte Aphrael die Anarae auf. »Ich muß mich noch einmal deiner Fähigkeiten vergewissern, bevor du in die Stadt gehst. Die Sache ist wichtig; aber ich möchte dich auf keinen Fall in Gefahr bringen. Wir müssen ganz sichergehen, daß niemand dich sehen kann.«
»Ihr macht Euch zu große Sorgen um mich, Göttin. Wir haben unseren besonderen Schutz im Laufe der Jahrhunderte vervollkommnet.« Sie richtete sich auf, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck schier übernatürlicher Ruhe an. Ihre Gestalt schien zu schimmern und weiche, regenbogenfarbene Blitze zuckten unter ihrer schlichten, grob gewebten Wollrobe. Allmählich verschwamm Xanetia, wurde immer undeutlicher.
Dann waren nur noch flüchtig ihre Umrisse zu erkennen; sie waren durchscheinend, so daß Sperber den Stamm eines Baumes sehen konnte, der hinter der Anarae stand.
»Wie gelingt es Euch, Dinge sichtbar zu machen, die Ihr mit dem Körper verdeckt?« erkundigte Aphrael sich neugierig.
»Wir beugen das Licht, Göttin und beeinflussen somit die Sinneswahrnehmung. Das ist die Hauptursache. Das Licht strömt um uns herum wie ein schneller Fluß und trägt die Abbildungen jener Dinge mit sich, die unsere Körper normalerweise verbergen müßten.«
»Sehr interessant«, sagte Aphrael nachdenklich. »An diese Möglichkeit habe ich niemals auch nur gedacht.«
»Wir müssen allerdings vorsichtig sein«, erklärte Xanetia, »denn unsere Schatten können uns verraten.«
»Dagegen könnt ihr leicht etwas tun. Ihr braucht euch nur dem Sonnenschein fernzuhalten.«
Sperber unterdrückte ein Lächeln. Selbst eine Göttin wartete manchmal mit allgemein bekannten Ratschlägen auf.
»Ich werde mich sorgfältig an Euren Rat halten, Göttin«, antwortete Xanetia, ohne eine Miene zu verziehen.
»Machst du dich über mich lustig, Xanetia?«
»Selbstverständlich nicht, Göttin Aphrael.« Inzwischen waren auch Xanetias Umrisse verschwunden, und ihre Stimme schien aus dem Nichts zu erklingen. »Ans Werk!« Ihre scheinbar körperlose Stimme näherte sich bereits der Straße. »Ich werde bald zurückkehren.«
»Ich muß Edaemus bewundern«, gestand Aphrael. »Das ist eine außerordentlich kluge Methode, sich zu verbergen. – Dreh dich um, Sperber. Ich verwandle mich zurück.«
Nachdem die Kindgöttin die vertraute Gestalt Flötes angenommen hatte, machten sie und Sperber es sich bequem und warteten, während die Sonne in diesem Teil der Welt allmählich aufging. Der Dschungel dampfte, und die Luft war voller Vogelgezwitscher und dem Summen von Insekten. Der Augenblick schien sich schier endlos zu dehnen. Sie waren so nahe bei Ehlana, daß Sperber beinahe vermeinte, ihren vertrauten Duft zu riechen. »Sind Ulath und Tynian bereits hier?«
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