Tamuli 3 - Das Verborgene Land
Streife?
Nein, dazu besteht keine Notwendigkeit. Der Anbau ist der höchstgelegene Ort der Stadt, und die Vorstellung, daß jemand den Turm erklimmen könnte, ist den Cyrgai nie gekommen.
Ist Santheocles zur Zeit da oben?
Als ich zuletzt durchs Fenster spähte, war er dort, aber inzwischen könnte er gegangen sein. Zalasta war bei ihm – und Ekatas. Irgendein Treffen stand kurz bevor, an dem sie teilnehmen wollten.
Ein leises Pfeifen erklang, und Sperber blickte zum Balkon. Talen winkte ihm. »Ich werde mich umsehen«, flüsterte Sperber Mirtai zu.
»Laßt Euch nicht zuviel Zeit«, ermahnte sie ihn. »Die Nacht neigt sich bald ihrem Ende zu.« Er brummte etwas und kletterte quer zum Balkon hinauf.
Die Zugbrücke war heruntergelassen, und niemand stand Wache. »Gut für uns«, sagte Elysoun, als sie, Liatris und Gahenas die Brücke zum Burghof überquerten. »Chacole denkt doch wirklich an alles, nicht wahr?«
»Ich dachte, hier sollten Ordensritter postiert sein«, wunderte sich Gahenas. »Chacole könnte doch sie nicht bestechen, oder?«
»Hochmeister Vanion hat die Ritter mitgenommen«, erklärte Liatris. »Die Verantwortung für die Bewachung der Burg wurde einstweilen der kaiserlichen Leibgarde übertragen. Zweifellos ist jetzt irgendein Offizier um vieles reicher, als er gestern noch war. – Ihr kennt Euch hier aus, Elysoun. Wo können wir unseren Gemahl finden?«
»Er hält sich für gewöhnlich im zweiten Stock auf, wo es eine kaiserliche Zimmerflucht gibt.«
»Dann sollten wir uns beeilen, hinauf zu kommen. Dieses unbewachte Brückentor macht mich ganz nervös. Ich bezweifle, daß wir in der gesamten Burg auch nur einen einzigen Leibgardisten finden würden – und das bedeutet, daß Chacoles Meuchler ungehindert zu Sarabian vordringen können.«
Der Balkon schien seit mindestens einer Generation nicht mehr benutzt worden zu sein. Staub lag tief in den Ecken, und die dicke Schicht aus Vogelexkrementen war unberührt. Talen kauerte neben dem Fenster und spähte um die Ecke, als Sperber sich über die steinerne Brüstung schwang. »Jemand in dem Zimmer?« flüsterte der große Pandioner.
»Mehr als genug«, wisperte Talen zurück. »Zalasta ist soeben mit zwei Cyrgai hereingekommen.«
Sperber schloß sich seinem jungen Freund an und blickte nun ebenfalls durch das Fenster.
Der mit Fackeln beleuchtete Raum schien eine Art Thronsaal zu sein. Der Balkon, auf dem Sperber und Talen kauerten, befand sich über dessen Fußbodenhöhe und konnte von diesem Saal aus über eine steinerne Treppe erreicht werden. Am hinteren Saalende stand auf einem Podest ein Thron, der aus einem einzigen Stein gehauen war. Ein muskulöser, gutaussehender Mann in kunstvoll gehämmertem Brustpanzer und einem kurzen Lederkilt saß darauf und blickte majestätisch um sich. Zalasta stand neben ihm, und ein runzliger Mann in festlich verzierter schwarzer Robe hatte vor dem Thronpodest Aufstellung genommen und redete in seiner eigenen, Sperber fremden Zunge. Sperber fluchte und sandte rasch den Zauber aus, der die Kindgöttin auf ihn aufmerksam machen würde. Was ist denn jetzt? hörte er Aphraels Stimme im Kopf. Kannst du für mich übersetzen?
Ich kann noch mehr!
Sperber glaubte ein schwaches Summen zu vernehmen, und für einen Augenblick fühlte er sich schwindelig.
»… schon in diesem Moment umzingeln jene Streitkräfte die heilige Stadt«, sagte der Alte in einer Sprache, die Sperber nun verstand.
Ein Mann mit eisengrauem Haar und strotzenden Armmuskeln löste sich von den anderen vor dem Podest und trat noch näher heran. »Was gibt es da zu befürchten, Ekatas?« grollte er mit tiefer Stimme. »Der mächtige Cyrgon blendet die Augen unserer Feinde, wie bereits seit hundert Jahrhunderten! Sollen sie doch unter den Gebeinen jenseits unseres Tales kauern und vergeblich das Tor der Täuschung suchen. Sie sind blind und keine Gefahr für die Verborgene Stadt!«
Die anderen, die vor dem Thronpodest standen, murmelten zustimmend.
»General Ospados hat recht!« bestätigte ein anderer Mann in Rüstung und trat ebenfalls näher. »Laßt uns diese jämmerlichen Fremden gar nicht beachten! So war es schon immer, und so soll es auch jetzt sein.«
»Schändlich!« warf ein anderer brüllend ein. Auch er trat vor, hielt jedoch betont Abstand von den beiden, die eben gesprochen hatten. »Wollen wir uns vor minderwertigen Völkern verstecken? Daß sie sich vor unserem Tor befinden, ist eine Beleidigung, die bestraft werden
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