Tamuli 3 - Das Verborgene Land
ihm. »Kein Zweig darf mir die Sicht versperren.« Sie machte eine Pause. »Hast du Angst vor großen Höhen?« »Nicht besonders. Warum?«
»Ich wollte es nur wissen. Erschrick nicht, wenn's losgeht. Dir wird nichts geschehen. Du bist vollkommen sicher, solange ich deine Hand halte.« Wieder machte sie eine Pause. »O je!« murmelte sie. »Da ist mir noch etwas eingefallen.«
»Was?« Sperber drückte einen Ast zur Seite und trat in den dunklen Wald. »Ich muß wirklich sein, wenn ich das tue!«
»Was meinst du mit ›wirklich‹? Du bist doch jetzt wirklich, oder nicht?«
»Nicht ganz. Stell keine Fragen, Sperber. Such ganz einfach eine kleine Lichtung, und kümmere dich eine Zeitlang nicht um mich. Ich muß um Unterstützung bitten – falls ich sie überhaupt finden kann.«
Er bahnte sich einen Weg durchs Dickicht. Sein Magen hatte sich verkrampft, und sein Herz lag wie ein Stein in seiner Brust. Die schreckliche Zwangslage, in der sie sich befanden, zerrte an ihm, schien ihn zu zerreißen. Sephrenia lag im Sterben, doch um sie retten zu können, brachte er Ehlana in Lebensgefahr. Nur kraft Bhellioms Willen setzte er noch Fuß vor Fuß. Sperbers eigener Wille war gelähmt durch diesen Zwiespalt und die hoffnungslos erscheinende Lage der beiden Frauen, die er mehr als alles auf der Welt liebte. Verzweifelt und wütend bahnte er sich durch die wild wuchernden Zweige und Dornenranken einen Weg.
Dann endlich war er hindurch und gelangte auf eine kleine, mit dichtem Moos gepolsterte Lichtung, wo sich in einem Teich, der von einem gurgelnden Bach gespeist wurde, der Sternenhimmel spiegelte. Es war ein friedlicher, beinahe verzauberter Ort, doch Sperber nahm die stille Schönheit kaum wahr. Er blieb stehen und setzte Aphrael ab. Ihr Gesichtchen war ausdruckslos, und ihre Augen starrten blicklos gen Himmel. Sperber wartete angespannt.
»Endlich!« rief sie schließlich gereizt. »Es ist so schwierig, ihnen etwas zu erklären. Nie hören sie lange genug zu brabbeln auf, daß sie zuhören könnten!« »Von wem redest du?«
»Von den tamulischen Göttern. Jetzt kann ich gut verstehen, weshalb Oscagne Atheist ist. Na ja, schließlich konnte ich sie doch überreden, hier zu spielen. Das dürfte dich und mich vor Cyrgon verbergen.«
»Spielen?«
»Sie sind Kinder, Sperber. Kleine Kinder, die herumlaufen und toben und kreischen und monatelang Fangen spielen. Cyrgon kann sie nicht ausstehen. Er würde sich nie auch nur in ihre Nähe begeben. Das müßte uns helfen. In ein paar Minuten werden sie hier sein; dann können wir anfangen. Dreh dich um, Vater. Ich mag es nicht, daß mir jemand zusieht, wenn ich mich verändere.«
»Ich habe dich schon mal gesehen – dein Spiegelbild jedenfalls.«
»Das macht mir nichts aus. Aber der Vorgang selbst ist ein wenig entwürdigend. Also, dreh dich um, Vater. Du würdest es ja doch nicht verstehen.«
Gehorsam wandte Sperber ihr den Rücken zu und blickte zum Nachthimmel empor. Mehrere vertraute Sternbilder waren nicht zu sehen, oder sie befanden sich an der falschen Stelle.
»Gut, Vater. Jetzt darfst du dich wieder umdrehen.« Ihre Stimme klang voller und melodischer.
Er drehte sich um. »Würdest du bitte etwas anziehen?«
»Warum?«
»Tu's einfach, Aphrael. Nimm Rücksicht auf meine menschlichen Eigenarten.« »Das ist reine Zeitvergeudung.« Sie streckte die Rechte aus, ergriff einen feinen Schleier, den sie aus Nichts gesponnen hatte, und schlang ihn um sich. »Besser?« fragte sie. »Nicht viel. Können wir unseren Weg jetzt fortsetzen?«
»Gleich.« Für einen Moment schien sie in weite Ferne zu blicken. »Sie kommen. Irgend etwas hatte sie kurz abgelenkt – aber dazu braucht es nicht viel. Hör mir jetzt gut zu. Versuche ganz ruhig zu bleiben. Du brauchst nur fest daran zu denken, daß dir nichts passiert; denn das würde ich nie zulassen. Du wirst nicht hinunterfallen.« »Hinunterfallen? Wovon? Was redest du eigentlich?«
»Du wirst es gleich sehen. Ich würde es auf andere Weise tun. Aber wir müssen so schnell wie möglich nach Dirgis, und ich möchte nicht, daß Cyrgon Zeit hat, mich zu orten. Wir gehen es langsam und in mehreren Etappen an, damit du dich daran gewöhnst.« Sie drehte leicht den Kopf. »Sie sind hier! Dann wollen wir!«
Sperber war, als könne er fernes Kinderlachen hören, aber es mochte auch nur der Wind sein, der durch die Baumkronen strich.
»Gib mir die Hand!« wies Aphrael ihn an.
Sperber griff nach ihrer Hand. Sie kam ihm sehr warm und
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