Tante Dimity und der skrupellose Erpresser
als von unten Stimmen zu uns heraufdrangen.
»Legal mag es sein, Gina, aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass es nicht moralisch ist«, hörte ich Bill sagen.
»Moral ist ein abstraktes Konzept«, entgegnete Gina. »Mir geht es einzig und allein um die Legalität.«
»Ich werde mich Ihnen widersetzen«, warnte Bill.
Ginas kehliges Lachen war voller Verachtung.
»Ihre Hingabe an eine verlorene Sache ist geradezu rührend.«
»Noch ist sie nicht verloren«, sagte Bill. »Bei unserem morgigen Treffen werde ich darauf bestehen …«
Ich hätte zehn Säcke mit Silber dafür gegeben, diesem Gespräch weiter zu lauschen, aber ihre Stimmen wurden lauter. Sie kamen direkt auf uns zu. Ich brauchte keine Kristallkugel, um mir den Aufruhr auszumalen, der entstehen würde, wenn Gina sah, wie ich einen Fremden durch die nächtlichen Flure zu Nells Zimmer führte, deshalb machten wir uns so schnell wie möglich davon.
»Rosarote Schuhe …«, murmelte ich, als wir an den Gemälden vorbeischlichen, die an den Wänden des schier endlosen Korridors hingen.
Wir hatten etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ich das Bild einer Schafhirtin in einem viel zu schicken Kleid entdeckte. Das Mädchen lächelte geziert und hielt einen mit Bändern geschmückten Hirtenstab in der Hand. An den Fü ßen trug sie …
»Rosarote Schuhe«, flüsterte ich und deutete auf die verräterische Fußbekleidung, aber Kit hatte bereits die Tür zum gegenüberliegenden Zimmer geöffnet. Ich schob ihn hinein und schloss die Tür hinter uns. Noch während ich nach Atem rang, schaute ich mich um.
Nichts in diesem Raum deutete darauf hin, dass er von einem Teenager bewohnt wurde –
keine Poster, keine elektronischen Spielzeuge, keine Unordnung. Die Einrichtung spiegelte den erlesenen Geschmack einer erwachsenen Frau wider, die ein ganz eigenes Stilempfinden besaß und ihm auch trauen konnte. Nichts anderes hätte ich von Nell erwartet.
Exquisite, handbemalte Tapeten bedeckten die Wände, sie zeigten verschlungene Äste und Zweige, verschwommene Apfelblüten in allen Schattierungen von Elfenbein, Rosé und Blassgrün. Die Möbel stammten aus verschiedenen Epochen, jedes einzelne Stück schien aufgrund besonders schöner Linienführung oder eines au ßerordentlich feinen Stoffes ausgewählt worden zu sein. Langweilige Unterwerfung an einen einzigen Stil gab es hier nicht.
Der cremefarbene Kaminsims aus Marmor ähnelte mit seinen Miniatur-Säulen dem im Salon. Der HalbBaldachin von Nells Bett war aus einem üppigen, hellgrünen Damaststoff gefertigt, der von goldener Spitze gesäumt war. Nells schokoladenbrauner Teddybär und Dereks abgewetzter grauer Elefant lehnten am Fußende des Bettes auf einem Fransenkissen kumpelhaft aneinander, als seien sie geschätzte Freunde und keine Stofftiere.
Auf dem Nachttisch stand ein Foto von Emma, Derek und Peter, silbern eingerahmt, unter einer Pergamentlampe, die ein warmes Licht auf eine Anordnung von drei Stühlen warf, die jetzt leer waren. Ihr gedämpfter Schein hüllte Nells goldene Locken in sanften Glanz.
Sie lag mit geschlossenen Augen da, ihr Kopf auf einen Berg von Kissen gestützt. Der rechte Arm lag über der spitzenbesetzten Decke, der andere darunter. Spitze säumte den Kragen und den Ärmel ihres Nachthemds, sein hoch geschlossener Ausschnitt verbarg die Verbände, die ihr gebrochenes Schlüsselbein und ihre ausgekugelte Schulter umgaben.
Sie sah leichenblass aus, fragil wie Raureif und so verletzlich wie ein schlafendes Kätzchen. Die gewohnte Rosenblütenröte hatte ihre Lippen verlassen, und unter ihren Augen lagen Schatten, die ich dort noch nie gesehen hatte. Ich hörte Kits heftiges Atmen. Es tat ihm augenscheinlich sehr weh, sie so leiden zu sehen. Er wandte sich ab und wollte den Raum verlassen, als Nell etwas sagte.
»Kit.« Ihre Stimme war so schwach, dass sie fast vom Prasseln des Regens übertönt wurde.
Kit hörte sie. Einen Augenblick lang stand er regungslos da, dann drehte er sich um und ging an ihre Seite. Ich wusste, dass es nicht richtig von mir war, aber als er sich über sie beugte, stellte ich mir vor, wie wunderschön ihre Kinder sein würden, wenn es nur …
»Hallo, Nell«, sagte er.
Sie öffnete die Augen und schaute zu ihm auf.
»Ich wusste, dass du kommen würdest. Deshalb habe ich die anderen fortgeschickt.«
»Du solltest nicht allein sein«, tadelte Kit sie sanft.
»Das bin ich nicht.« Nell brachte den Hauch eines Lächelns hervor, aber im
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