Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
sagte ich. »Meine Freundin Emma meint, dass Katzen sich hervorragend darauf verstehen, einem Schuldgefühle einzuimpfen. Unterernährt ist er mir wirklich nicht vorgekommen.«
»Aber nur, weil Miss Beacham seinen Speiseplan aufgestockt hat«, erwiderte Gabriel düster.
Ich blieb stehen. »Fehlt Ihnen was? Sie haben wegen Stanley doch nicht etwa ein schlechtes Gewissen, oder?«
»Es ist nicht wegen Stanley«, brummte Gabriel.
»Mir schlägt was anderes aufs Gemüt, aber das ist so albern, dass es mir peinlich ist, darüber zu reden.«
»Mein lieber Gabriel, Sie können mir sagen, was Sie wollen, nichts davon wird mich schockieren«, erklärte ich. »Ich bin die Königin aller albernen Menschen.«
Er zögerte. Dann murmelte er, ohne mir in die Augen zu sehen: »Ich bin eifersüchtig auf Miss Beacham. Lächerlich, was? Aber es stimmt. Ich kenne Mr Mehta seit vier Jahren, aber für ihn bin ich immer noch nicht mehr als ein guter Kunde.
Bestimmt werden die Leute in den anderen Läden alle dasselbe sagen: Ja, ja, Mr Ashcroft ist ein bekanntes Gesicht, aber Miss Beacham war eine geschätzte Freundin. Darum bin ich eifersüchtig.« Er wetzte mit der Fußspitze an einem Pflasterstein herum. »Albern genug für Sie?«
»Es ist doch nicht albern, wenn man gemocht werden will«, erwiderte ich ernst. »Aber man kann natürlich nicht erwarten, dass das von selbst kommt. Man muss etwas dafür tun. Miss Beacham hat was getan. Sie hat mich wie einen Menschen behandelt, der es wert ist, dass man sich um ihn bemüht. Und dass sie alle anderen genauso behandelt hat, ist offensichtlich.«
»Ich weiß ja gar nicht so genau, ob ich was dafür tun will«, seufzte Gabriel. »Ich bin nicht so wie Miss Beacham. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in meinem Leben Platz für so viele neue Freunde habe.«
»In Ihrem Leben oder in Ihrem Herzen?«, bohrte ich nach.
»Wahrscheinlich in beidem«, gab er zu.
Seine Worte weckten in mir Erinnerungen an die ersten Tage im St.-Benedict’s-Asyl, als ich mein Möglichstes getan hatte, um diesen Männern, die ich nicht kannte, ja nicht nahezukommen, und sich dann doch Veränderungen ergeben hatten, weil ich mich zu guter Letzt gezwungen hatte, auf sie zuzugehen.
Ich reckte das Kinn und lächelte ihn an. »Wissen Sie, was das Komische am Herzen ist, Gabriel? Je mehr man es benutzt, desto größer wird es. Man kann es nicht auffüllen, aber es hört einfach nicht auf, sich von selber auszudehnen.« Ich stupste ihn sanft gegen die Schulter. »Versuchen Sie’s doch mal. Was haben Sie denn schon zu verlieren außer Ihrer Anonymität?« Und bevor ich mich bremsen konnte, fügte ich hinzu: »Und es könnte ganz hilfreich sein, wenn Sie damit aufhören würden, immer gleich innerlich auf zujaulen, wenn eine hübsche Frau Sie ansieht.«
»Wie bitte?«, fragte Gabriel verblüfft.
»Äh … n-nichts«, stammelte ich. »Seien Sie einfach ein bisschen freundlicher. Das ist alles. Ein bisschen offener.«
»Bei Ihnen klingt das so leicht.«
»Mit der Übung wird es immer leichter«, versicherte ich ihm im Weitergehen. »Betrachten Sie das heute als Ihre erste Lektion. Und bei den Befragungen lasse ich Sie das Wort führen. Sie werden über sich selbst staunen.«
Gabriel war ein gelehriger Schüler. Als wir in der Travertine Road von Laden zu Laden zogen, überraschte er sich selbst und auch die Ladeninhaber, die doch alle geglaubt hatten, ihn als großen Schweiger zu kennen, denn er zeigte sich fast so redselig, wie ich es normalerweise war, und ließ mir kaum eine Chance, selbst mal ein Wort unterzubringen.
Mit dem Betreten eines Ladens warteten wir immer so lange, bis drinnen kein Kundenandrang mehr herrschte. Stets wurden wir mit »Guten Morgen!« begrüßt, worauf Gabriel statt der üblichen Erwiderung betrübt sagte: »Leider kein so guter Morgen für mich. Ich habe gerade die traurige Nachricht über die arme Miss Beacham gehört.
Wir beide haben im selben Haus gewohnt, wissen Sie.« Und das war genug – mehr als genug –, um das Gespräch in Gang zu bringen, das bisweilen ganz unerwartete Wendungen nahm.
»Wie schlage ich mich?«, fragte mich Gabriel, als wir die Bäckerei verließen.
»Einfach großartig«, lobte ich ihn. »Das mit Mr Blascoes schmerzenden Ballen war wirklich interessant. Ich selbst wäre nie darauf gekommen, mich nach seinen Füßen zu erkundigen.«
Gabriel zuckte mit den Schultern. »Das kam mir irgendwie völlig natürlich vor. Bäcker verbringen eben viel Zeit im
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