Tante Lisbeth (German Edition)
bringen Ihnen achtzehntausend Francs Gehalt und lassen Ihnen im übrigen Ihre Unabhängigkeit. Im Abgeordnetenhaus können Sie ganz Ihren politischen Anschauungen und Ihrem Gewissen folgen. Bewahren Sie da Ihre Freimütigkeit! Unbedingt! Wo käme ein Staat hin, der keine nationale Opposition hätte! – Weiter! Ein Wort, das mir Ihr Onkel wenige Stunden vor seinem Hingange geschrieben hat, verpflichtet mich, um Ihre Frau Mutter Sorge zu tragen. Der Marschall hat sie sehr verehrt. Nun haben die Damen Popinot, de Rastignac, de Navarreins, d'Espard, de Grandlieu, de Carigliano, de Lenoncourt und de la Bâtie für Ihre liebe Frau Mutter einen Posten geschaffen, den einer Aufsichtsdame ihres Wohltätigkeitsvereins. Die Patronessen dieses Vereins werden mit ihren Obliegenheiten nicht allein fertig. Sie brauchen eine Vertrauensdame, die sie tätig vertritt, die die Hilfsbedürftigen besucht, die Erkundigungen anstellt, ob wirklich nur Würdige unterstützt werden, ob denen in der Tat geholfen wird, denen Unterstützungen zugedacht sind, die verschämte Arme auffindet und so weiter. Ihre Frau Mutter könnte hier sehr segensreich wirken. Sie hat nur Rücksicht auf die Geistlichkeit und die Krankenschwestern zu nehmen. Sie bekommt sechstausend Francs im Jahr und die freie Verfügung über einen Wagen. Sehen Sie, junger Freund, so bleiben hochherzige Menschen auch über das Grab hinaus die Beschützer der Ihren!«
»Durchlaucht, die zarte Fürsorge ehrt meinen Onkel!« gab Viktor zur Antwort. »Ich will versuchen, Ihren Erwartungen zu entsprechen.«
»Richten Sie Ihre Familie auf! – Da fällt mir ein: Ihr Vater ist verschwunden?«
»Leider ja, Durchlaucht!«
»Ich finde es korrekt.«
»Er hat die Folgen von Wechselschulden zu befürchten.«
»So!« sagte der Fürst. »Sie werden das Gehalt eines halben Jahres für alle Ihre Ämter im voraus ausgezahlt bekommen. Damit werden Sie zweifellos in der Lage sein, die Papiere aus den Händen des betreffenden Wucherers zu bekommen. Außerdem will ich einmal mit Nucingen sprechen. Vielleicht kann er Ihres Vaters Pension wieder frei machen, ohne daß es Ihnen noch meinem Ministerium einen Groschen kostet. Nucingen ist unersättlich. Er will schon wieder ich weiß nicht welche Konzession ...« '
Viktor räumte seiner Mutter, ebenso seiner Schwester und Tante Lisbeth voneinander getrennte Wohnungen in seinem Hause in der Rue Louis-le-Grand ein. Der Baronin war ihr früheres Heim in der Rue Plumet völlig verleidet, so daß sie das Angebot ihres Sohnes gern annahm. Vor den wirtschaftlichen Kleinigkeiten des Lebens blieb sie bewahrt, da Lisbeth die Wirtschaft mit ihrer gewohnten Sparsamkeit und Geschicklichkeit in die Hände nahm. Sie sah hierin ein Mittel, ihre dumpfe Rachsucht auf diesen drei Menschen lasten zu lassen. Nach wie vor war ihr Ziel die Rache, und der Zusammenbruch ihrer Hoffnungen hatte ihren Haß noch geschürt. Einmal im Monat suchte sie Frau Valerie Marneffe auf. Hortense schickte sie, weil sie Neues über Stanislaus erfahren wollte. Nach und nach wurden die Besuche der Tante Lisbeth immer häufiger, wobei sie immer wieder die ihr so erwünschte Wißbegierde ihrer Kusine als Vorwand benützte.
Fast zwei Jahre vergingen. Adelines Gesundheit festigte sich wieder; ihre Nervosität legte sich allerdings nicht. Die Baronin ging ihrer Beschäftigung nach, die ihre trübsinnige Stimmung ableitete.
Während dieser Zeit wurden die Vauvinetschen Wechsel des Barons eingelöst, ebenso wurde seine Pension zum größten Teil wieder frei. Mit den zehntausend Francs Zinsen, die das vom Kriegsministerium zum Familiengut gemachte Kapital von zweihunderttausend Francs einbrachte, deckte Viktor alle Ausgaben von Mutter und Schwester. Abgesehen davon bot das Gehalt der Baronin den beiden Damen im Verein mit der Pension des Barons die Aussicht, fortan auf ein Jahreseinkommen von zwölftausend Francs rechnen zu können. Aber die beständige Sorge um den Verschwundenen, zu der sich der Anblick der verlassenen Tochter und die ihr unter dem Deckmantel der Harmlosigkeit beigebrachten Böswilligkeiten Lisbeths gesellten, ließ sie nicht glücklich werden.
Im Mameffeschen Hause hatten sich zwei bedeutsame Ereignisse vollzogen. Valerie hatte ein nicht lebensfähiges Kind geboren, an dessen Sarg sie um die ihr entgangene Rente von zweitausend Francs trauerte.
Eines Tages war Tante Lisbeth von einem ihrer Erkundigüngsbesuche mit folgender Neuigkeit nach Hause gekommen.
»Heute früh hat das
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