Tanz auf Glas
Haus.
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19
23 . August 2011
E s ist lange her, dass ich mich völlig verloren habe. Aber es kommt. Ich fühle das. Wenn ich so bin, ist Lucy die Einzige, die mir Halt geben kann. Aber im Moment sprechen wir nicht miteinander.
Gleason weigert sich, meine Sicht der Dinge zu verstehen. Er hat mir vorgeworfen, ich würde meine Krankheit als Ausrede dafür benutzen, dass ich mich schlecht benehme. Er meint, diese Traurigkeit sei nicht pathologisch, sondern das Leben. Und ich dürfe mich da nicht herauswinden, indem ich selbst an meiner Medikation drehe.
»Ich schäme mich für dich«, sagte er. »Hast du Lucy wirklich nicht mehr zu geben?«
Ich saß da und ließ seine Worte auf mich herabprasseln wie Steine, die vom Himmel fielen.
»Mach die Bühne frei, mein Freund«, sagte er. »Hier geht es nicht um dich oder deine bipolare Störung. Du bist in dieser traurigen Situation genau wie jeder andere Mensch – nicht mehr als ein Zuschauer, der gezwungen ist, eine Tragödie mit anzusehen. Dein Verhalten ist eine Charakterfrage, Michael, keine medizinische. Du kannst deine Sünden nicht hinter deiner Diagnose verstecken. Wenn dich irgendetwas in die Selbstzerstörung treibt, dann nicht die Tatsache, dass du Lucy verlierst, sondern wie du dich dabei verhältst.«
Ich war so wütend, dass ich die Sitzung abbrach, hinausstürmte und die Tür hinter mir zuknallte. Dann ging ich hinüber ins Colby’s, um einen zu trinken. Und dann fuhr ich nach Hause und stritt mit Lucy, dem einzigen Menschen, den ich auf keinen Fall verletzen wollte, obwohl ich das so gut konnte.
Nachdem Mickeys verzweifelte Hoffnung auf Priscillas Überredungskünste dahin war, blieb ihm nichts anderes mehr als Wut. Aber der Gute, er bemühte sich, höflich zu sein und seine wachsende Verbitterung zu unterdrücken. Er spielte mir sogar Unterstützung vor. Aber er erreichte etwa so viel wie ein Mann, der versuchte, ein Kreuzfahrtschiff mit einem Löffel voranzupaddeln.
Manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich mit einem Ausdruck der Verdammung in den feuchten Augen betrachtete. Meist hielt er den Blickkontakt lange genug, um die Botschaft rüberzubringen, und wandte sich dann voller Abscheu von mir ab. Manchmal trat er auch hinter mich und schlang die Arme um meine Taille. Er drückte das Gesicht in meinen Nacken, und ich fragte mich jedes Mal, ob er jetzt endlich weicher wurde, doch dann stöhnte er und riss sich grob von mir los. Wieder die gleiche deutliche Botschaft.
Diesmal war es noch viel schlimmer als beim letzten Mal. Bei meiner ersten Krebserkrankung hätte ich an Mickeys Angst und Qual ersticken können. Doch sie wurden gemildert durch seinen Glauben an die Therapie, die absolut brutal war. Ich hätte an zehn verschiedenen Nebenwirkungen sterben können, doch seine Hoffnung war unerschütterlich, weil ich aktiv um mein Leben kämpfte. Diesmal nicht.
Unter dem Strich verzieh Mickey mir einfach nicht, dass ich die Abtreibung verweigerte. So konnten wir gar nicht anders miteinander umgehen als kühl und spröde.
Ein paar Wochen nach dem abgesagten Abtreibungstermin kam ich von einer Lehrerkonferenz nach Hause und fand Mickey im Schlafzimmer vor, wo er auf der Bettkante saß, den Kopf in den Händen vergraben. Ich streckte die Hand nach ihm aus, doch er wich zurück.
»Was machst du hier, Mic?«
»Nachdenken.«
»Na, dann übernimm dich mal nicht.« Kein noch so kurzes Lachen, also setzte ich mich neben ihn. »Entschuldige.«
»Liebst du mich, Lucy?«, fragte er den Fußboden.
»Natürlich liebe ich dich, was ist denn das für eine Frage?«
»Wie sehr liebst du mich?«
Ich schüttelte den Kopf. »Unendlich, Mickey. Das weißt du doch.«
»Früher. Jetzt weiß ich es nicht mehr.«
Ich hob sein Gesicht an und sah, dass er geweint hatte. »Wie meinst du das, du weißt es nicht mehr?«
»Ich brauche eine ehrliche Antwort von dir, Lucy. Liebst du das Baby mehr als mich?«
»Nein. Natürlich nicht.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Mickey, ich liebe dieses Baby genauso sehr wie du. Sie ist unsere Tochter.«
Er schob meine Hand von sich und stand auf. »Ich liebe sie nicht so sehr wie dich. Ich würde ihretwegen niemals
dich
aufgeben. Ich würde
dich
nicht ihretwegen verlassen.«
Ich stieß den Atem aus. »Warum tust du das?«
Er beugte sich vor und schrie mir aus allernächster Nähe ins Gesicht: »Du sollst nur die Wahrheit sagen, Lucy! Hier geht es nicht um mich! Ich war dir fast elf Jahre lang wichtig, aber jetzt willst
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