Tanz auf Glas
seufzend: »Und, wie geht es ihm?«
»Besser. Am Freitag kommt er nach Hause.«
Sie nickte. »Ich weiß nicht, wie du das schaffst.«
»Doch, das weißt du«, sagte ich und drückte ihre Hand.
Meine Schwester küsste mich auf die Wange. »Ruf mich an, wenn deine Laborergebnisse da sind.« Dann stand sie auf und ging den Kiesweg entlang. Sie war ein guter Mensch, meine Schwester, aber nur, wenn es einem gelang, in den Bunker ihrer Persönlichkeit vorzudringen. Es gab nicht viel, was Priscilla Angst einjagen oder sie verletzen konnte, aber meine Gesundheit gehörte dazu. Ihre eigene auch. Und einmal sogar ihre Gesundheit
und
ein Mann.
Das war in der Nacht gewesen, als Mickey und ich uns stundenlang in der Cafeteria des Krankenhauses unterhalten hatten. Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, kehrte ich in Priscillas Zimmer zurück und fand meine Schwester wach und weinend vor.
»Was ist, Priss?«, fragte ich. »Hast du Schmerzen?«
»Nein.«
»Möchtest du, dass ich gehe?«
»Nein! Ich habe auf dich gewartet.«
»Was ist? Was brauchst du?«
»Ich will nur nicht allein sein, okay?«, fauchte sie.
Ich setzte mich hin und hörte zu, wie sie im Dunkeln schniefte. Aber wenn ich Licht machte, hätte ich ihre Tränen gesehen.
»Du weinst doch nicht wegen der Krankheit, oder, Priscilla? Charlotte hat gesagt, dass wir uns kein besseres Ergebnis hätten wünschen können.«
»Nein, nicht deswegen. Obwohl ich wahnsinnig erleichtert bin.«
Sie sagte lange nichts mehr, weinte aber immer noch. Schließlich versuchte ich es noch einmal: »Rede mit mir, Priss. Was ist passiert?«
Es dauerte einen Moment, doch dann brachte sie mühsam hervor: »Er ist verheiratet.«
»Wer?« Einen egoistischen Augenblick lang dachte ich, dass sie von Mickey sprach. Dass sie sich die Treppe hinuntergeschleppt und mir nachspioniert hätte und etwas über ihn wusste, das ich nicht wusste. »Wer ist verheiratet?«
»Was spielt es schon für eine Rolle, wie er heißt? Er ist ein Mandant, er ist verheiratet, und ich bin eine Idiotin. Ich bin ein wandelndes Klischee.« Sie stöhnte. »Wie konnte ich nur so dämlich sein?«
»Priss, Süße, wovon sprichst du?«
»Ich habe meine oberste Regel gebrochen und mich in einen Mandanten verliebt.«
»Wie lange läuft das schon?«
»Seit fast einem Jahr.«
»Ein Jahr? Liebst du ihn wirklich?«
»Ach, Lucy«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich liebe ihn so sehr, als könnte es mich ohne ihn gar nicht geben. Und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich tun soll.«
So hatte ich meine Schwester noch nie erlebt. In meiner Vorstellung war sie die Letzte, die zulassen würde, dass ein Mann ihr so weh tat. Die Welt kannte sie als unabhängig, eigensinnig, ehrgeizig. Ihre Kollegen wussten, dass sie die jüngste Frau war, die es je zur Partnerschaft in ihrer Kanzlei gebracht hatte. Ihre Freundinnen wussten, dass sie neoklassische Musik liebte und glaubte, makrobiotische Ernährung würde sie jung erhalten. Lily und ich wussten, dass sie den Crosstrainer hasste, aber trotzdem jeden Tag eine Dreiviertelstunde darauf trainierte. Wir wussten, dass sie Kekse buk, nur um den rohen Teig zu naschen, und dass sie heimlich Kaschmirwolle hortete, um eines Tages mit Hilfe teurer Bambusnadeln Schals daraus zu stricken. Männer jedoch waren für Priss so etwas wie Nachtisch (den sie sich selten gönnte), und was man letzte Woche oder letzten Monat zum Nachtisch gegessen hatte, war normalerweise nicht unbedingt erwähnenswert. Wie kam es dann, dass dieser Mann so etwas Besonderes für sie war? Und zudem ein verheirateter Mandant, was dachte sie sich nur dabei?
Ich stieg zu ihr ins Bett, legte einen Arm um ihre Schultern und war überrascht, dass sie mich nicht wegschob. Sie wimmerte nur an meiner Schulter vor sich hin, bis ich glaubte, die kläglichen Laute würden mir gleich das Herz brechen. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, sagte ich: »Erzähl es mir. Von Anfang an. Und schön langsam.«
Ihr verheirateter Mandant hieß Kenneth Boatwright. Sie war damals achtundzwanzig, er einundvierzig. Sie hatte ihn kennengelernt, als er Priss’ Kanzlei für sein Unternehmen beauftragt hatte. Sie hatte das Team angeführt, das seine Firma betreute, und er steckte mit gebrochenem Herzen mitten in einer hässlichen Scheidung.
Na klar,
dachte ich, aber das in dem Moment zu sagen, wäre Selbstmord gewesen. Sie beschrieb ihn als Leckerbissen, der das aber nicht heraushängen ließ – was auch immer das bedeuten sollte.
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