Tanz der Hexen
war? Wieder schloß sie die Augen, um das weite, leere Viereck des Zimmers nicht mehr sehen zu müssen. Steril und weiß blitzte es vor ihren Lidern. Michael, dachte sie. Sie sprach seinen Namen im Dunkeln: »Michael«, und sie versuchte, ihn vor sich zu sehen, ihn wie ein Bild im Computer ihres Geistes aufzurufen. Michael, den Erzengel.
Sie lag still und versuchte, sich nicht zu sträuben, nicht zu wehren, sich nicht anzuspannen, nicht zu schreien. Einfach dazuliegen, als sei es ihre eigene Entscheidung, auf diesem dreckigen Bett zu liegen, die Hände mit Schlaufen von Plastikklebstreifen an das Kopfende gefesselt. Sie hatte alle ihre Versuche aufgegeben, den Klebstreifen zu zerreißen.
Aber gestern am späten Abend war es ihr gelungen, den li n ken Fußknöchel freizubekommen; sie wußte nicht genau, wie. Sie hatte aus dem Klebstreifen herausrutschen können, der sich zu einer dicken, schlechtsitzenden Manschette verhärtet hatte. Und mit dem einen freien Fuß hatte sie in den langen Stunden der Nacht ihre Position ein paarmal verändern und langsam das oberste Bettlaken herauszerren können, das steif war von Urin und Erbrochenem, und sie hatte es hinunter und vom Bett schieben können.
Natürlich waren die Laken darunter genauso verdreckt. Lag sie seit drei oder seit vier Tagen hier? Sie wußte es nicht, und das machte sie wütend. Wenn sie nur an den Geschmack von Wasser dachte, wurde sie wahnsinnig.
Es konnte durchaus schon der vierte Tag sein.
Sie versuchte sich zu erinnern, wie lange ein Mensch ohne Nahrung und Wasser überleben konnte. Sie sollte es wissen. Jeder Neurochirurg sollte etwas so Einfaches wissen.
Sie durchforstete ihre Erinnerungen an heldenhafte Geschichten, die sie gelesen hatte, wunderbare Erzählungen von Leuten, die nicht verhungert waren, während andere ringsumher verschmachteten, die meilenweit durch schweres Schneegestöber gewandert waren, wo andere gestorben wären. Sie hatte einen starken Willen. Das stimmte. Aber etwas anderes bei ihr war ganz und gar nicht in Ordnung. Sie hatte sich übe r geben, als er sie hier festgebunden hatte. Sie hatte sich ein paarmal übergeben, seit sie zusammen aus New Orleans weggegangen waren. Übelkeit, Schwindelgefühle – selbst wenn sie flach auf dem Rücken lag, hatte sie manchmal das Gefühl, zu fallen – und Gliederschmerzen.
Sie wand sich herum und bewegte die Arme, so gut sie kon n te, ein kleines bißchen, auf und ab, auf und ab, und sie krümmte und streckte das freie Bein und drehte das andere in der Klebstreifenfessel. Würde sie aufstehen können, wenn er zurückkäme?
Und dann der naheliegende Gedanke: Wenn er nun nicht z u rückkommt? Wenn er beschließt, nicht mehr herzukommen, oder wenn ihn etwas daran hindert? Er tappte dort draußen umher wie ein Wahnsinniger, berauscht von allem, was er sah, und ohne Zweifel beging er ohne Unterlaß seine typischen, komischen Fehleinschätzungen. Na, es gab eigentlich nicht viel zu überlegen: Wenn er nicht zurückkäme, würde sie sterben.
Niemand würde sie hier je finden.
Es war ein völlig abgeschiedener Ort. Ein leerstehendes Bürogebäude zwischen Hunderten von anderen – ein unvermietetes, unerschlossenes Bürogebäude, das sie sich selbst als Versteck ausgesucht hatte, tief im Herzen dieser ausgew u cherten, häßlichen Südstaatenmetropole, einer Stadt, die vol l gestopft war mit Krankenhäusern und Kliniken und medizinischen Bibliotheken, in der sie sich versteckt hatten, während sie ihre Experimente durchführten, wie zwei Blätter an einem Baum.
Dieser Raum war dunkel. Er hatte die Lampen abgerissen. Und im Laufe der Tage hatte sich das als eine Gnade erwi e sen.
Wenn es dunkel wurde, sah sie die dicht beieinanderstehenden, reizlosen Wolkenkratzer durch die breiten Fenster. Manchmal ließ die ersterbende Sonne die silbrigen Glasba u ten leuchten, als ständen sie in Flammen, und vor einem r u binroten Himmel stiegen hohe, dichte, endlos wallende Wo l ken empor.
Sie fing wieder an zu träumen, Gott sei Dank, und sie stellte sich vor, sie und Michael wären vereint, und sie spazierten gemeinsam über das Feld in Donnelaith, und sie erklärte ihm alles…
»Es war eine Fehleinschätzung nach der anderen. Ich hatte immer nur bestimmte Wahlmöglichkeiten. Aber der Fehler lag in meinem Stolz – zu glauben, daß ich diese Sache bewält i gen, daß ich damit fertig werden könnte. Es war immer der Stolz. Die Geschichte der Mayfair-Hexen besteht aus Stolz. Aber dies begegnete
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