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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Zikaden erinnerte, die man abends in New Orleans hörte.
    Sein Gesicht war schmaler als vor ein paar Tagen noch, männlicher vielleicht – das war das Geheimnis. Seine Wangen hatten die letzten Rundungen verloren. Auch seine Nase war etwas schmaler geworden, runder an der Spitze, feiner. Aber sein Kopf war immer noch genauso groß.
    Sein Kopf. War da immer noch die weiche Stelle in der Schädeldecke? Wie lange würde der Schädel brauchen, um sich zu schließen? Sie vermutete, daß das Wachstum sich verlan g samt, aber nicht aufgehört hatte.
    »Wo bist du gewesen?« fragte sie. »Warum hast du mich a l lein gelassen?«
    »Du hast mich dazu gebracht«, sagte er seufzend. »Du hast mich mit deinem Haß dazu gebracht, zu gehen. Und ich mußte auch wieder in die Welt hinausgehen, um Dinge zu lernen. Ich mußte die Welt sehen. Ich mußte wandern. Ich mußte meine Träume bauen. Ich kann nicht träumen, wenn du mich haßt. Wenn du mich anschreist und mich quälst.«
    »Warum tötest du mich nicht?«
    Sein Blick wurde traurig. Er wischte ihr mit dem warmen, z u sammengefalteten Waschlappen durch das Gesicht, über die Lippen.
    »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich brauche dich. Die Welt wird bald uns gehören, mein Liebling, und du wirst meine Königin sein, meine schöne Königin. Wenn du mir nur helfen wolltest.«
    »Helfen? Wobei?« fragte sie.
    Sie sah ihn an und schöpfte tief aus ihrem Haß und ihrer Wut, und mit aller Macht versuchte sie, eine unsichtbare, tödliche Kraft gegen ihn zu richten. Die Zellen zerschmettern, die Adern zerschmettern, das Herz zerschmettern. Sie mühte und mühte sich, und dann sank sie erschöpft in die Wanne zurück.
    Im Laufe ihres Lebens hatte sie mit solchem Haß unabsichtlich mehrere Menschen getötet, aber ihn konnte sie nicht töten. Er war zu stark.
    Er beugte sich nieder und küßte sie wieder. Sie wandte sich ab. Ihr Haar war jetzt naß. Sie wollte sich ins Wasser hinu n tergleiten lassen, aber sie fürchtete, nicht allein wieder hoc h zukommen. Er drückte den Waschlappen in der Hand aus und fing wieder an, sie zu waschen. Er wusch sie von oben bis unten. Er ließ ihr das Wasser ins Haar rinnen und wusch es ihr aus der Stirn.
    Sie war an seinen Geruch so sehr gewöhnt, daß sie ihn e i gen t lich gar nicht mehr wahrnahm; sie empfand nur das wa r me Gefühl seiner Nähe und ein tiefes, enervierendes Verlangen nach ihm. Natürlich – Verlangen nach ihm.
    »Laß mich dir wieder vertrauen, sag mir, daß du mich wieder liebst«, beschwor er sie, »und ich bin dein Sklave, nicht dein Gefängniswärter. Ich schwöre es dir, meine Liebe, meine Strahlende, meine Rowan. Unser aller Mutter.«
    Sie gab keine Antwort. Er hatte sich aufgerichtet.
    »Ich werde alles für dich saubermachen«, sagte er, stolz wie ein Kind. »Ich werde alles reinigen und frisch machen und schön. Ich habe Sachen für dich gekauft. Neue Kleider. Ich habe Blumen mitgebracht. Ich werde unseren geheimen Ort in eine Laube verwandeln. Es wartet alles bei den Aufzügen. Du wirst so überrascht sein.«
    »Meinst du?«
    »O ja, du wirst dich freuen, wart’s nur ab. Du bist nur müde und hungrig. Ja, hungrig. Oh, du mußt etwas essen.«
    »Und wenn du mich wieder allein läßt, fesselst du mich dann mit einem weißen Satinband?« Wie schroff ihre Stimme klang, wie absolut verächtlich. Sie schloß die Augen. Ohne nachz u denken, hob sie die rechte Hand und berührte ihr Gesicht. Ja, die Muskeln und Gelenke funktionierten allmählich wieder.
    Er ging hinaus, und sie fing mit einiger Mühe den schwimmenden Waschlappen ein und begann sich zu waschen. Das Badewasser war schmutzig. Zuviel Dreck. Flocken von menschlichen Exkrementen, ihren Exkrementen, schwammen auf der Wasseroberfläche. Wieder wurde ihr übel, und sie ließ sich zurücksinken, bis es vorüber war. Dann beugte sie sich vor, daß ihr Rücken weh tat, und zog den Stöpsel heraus; ihre Finger waren immer noch gefühllos und schwach und unb e ho l fen, und sie drehte den flutenden Hahn auf, um die winz i gen, krausen Schmutzkrusten abzuspülen.
    Sie lehnte sich zurück und fühlte die Kraft des Wassers, das sie umströmte und zu ihren Füßen aufschäumte; sie atmete tief und befahl erst der rechten, dann der linken Hand, sich zu krümmen und zu strecken, dann dem rechten, dann dem li n ken Fuß. Dann begann sie mit diesen Übungen von vorn. Das Wasser wurde heißer, und es war behaglich so. Das Ra u schen übertönte alle Geräusche aus dem anderen Zimmer. Sie

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