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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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unter dem dunkler werdenden Himmel; das Tal war endlos, und die Ruinen der Kathedrale ragten vor mir auf. Seine Worte sanken in meine Seele ein, und ich lernte sie auswendig.
    »Wer hat dich das gelehrt?« fragte ich.
    »Du«, sagte Lasher. »Du und deinesgleichen, ihr habt mich gelehrt, zu wollen, zu streben, zu suchen, statt zu klagen. Und jetzt erinnere ich dich daran, denn die Vergangenheit ruft dich unter falschem Vorwand.«
    »Meinst du?« sagte ich.
    »Ja«, sagte er. »Diese Steine – was sind sie denn? Sie sind nichts.«
    »Darf ich die Kirche sehen, Geist?«
    »O ja«, sagte er. »Zünde deine Laterne an, wenn du willst. Aber du wirst sie nie sehen, wie ich sie gesehen habe.«
    »Da irrst du dich, Geist. Wenn du in mich fährst, läßt du etwas von dir zurück. Ich habe sie gesehen. Von Gläubigen erfüllt bis zu den Türen, mit Kerzen und weihnachtlichem Grün…«
    »Schweig!« befahl er, und ich fühlte ihn wie einen Windstoß, der mich plötzlich so hart umfaßte, daß er mich fast umgeworfen hätte. Ich fiel auf die Knie. Der Wind hörte auf. »Danke Geist«, sagte ich. Ich riß ein Streichholz an, schirmte es sorgfältig ab und zündete den Docht in der Laterne an. »Willst du mir nicht von diesen Zeiten erzählen?«
    »Ich würde dir erzählen, was ich von hier aus sehe. Ich sehe meine Kinder.«
    »Sprichst du jetzt von uns?«
    Aber mehr wollte er nicht sagen, wenngleich er mir folgte, als ich mir meinen Weg durch das hohe Gras und über steinigen, unebenen Grund bahnte, bis ich die Ruine schließlich erreicht hatte, in dem riesigen Kirchenschiff stand und die eingestürzten Bögen betrachtete. Lieber Gott, was für eine großartige Kathedrale das gewesen sein mußte. Ich hatte ihresgleichen überall in Europa gesehen. Sie war nicht im romanischen Stil gebaut gewesen, mit Rundbögen und einer Fülle von Malereien, sondern zweifellos aus kaltem Stein, hochaufragend und anmutig wie die Kathedralen in Chartres und Canterbury.
    »Aber das Glas – ist denn irgend etwas übrig von dem herrlichen Glas?« flüsterte ich.
    Und wie eine klagende Antwort strich der Wind weit und gelassen durch das ganze dunkle Glen und noch einmal durch das Kirchenschiff, daß das wilde Gras sich hin und her wiegte und sich aufsträubte, wie um mich zu umarmen. Der Mond war aufgegangen, und Sterne schimmerten hervor.
    Und plötzlich sah ich, noch hinter dem Ende des Kirchenschiffs, dort, wo einst die Fensterrosette gewesen war, wo der hohe Steinbogen stand – den Geist selbst, riesenhaft, groß, dunkel, durchscheinend, über den Himmel gebreitet wie ein mächtiges Unwetter, das sich heranwälzt, nur lautlos, sich sammelnd und wieder sammelnd, bis er sich dann in jähem Bersten ins Nichts versprühte.
    Der klare Himmel, der Mond, die fernen Berge, der Wald. All das lag klar und still vor mir, und die Luft war kalt und leer. Meine Laterne brannte hell. Ich war allein. Es war, als wachse die Kathedrale um mich herum, während ich zwergenhaft zusammenschrumpfte, eitel, kleinlich und verzweifelt. Ich ließ mich zu Boden sinken, zog das Knie an und stützte Hand und Kinn darauf. Ich spähte in die Dunkelheit und wünschte, Lashers Erinnerungen würden in mir aufsteigen.
    Aber nichts stieg in mir auf außer meiner Einsamkeit, meinem unendlichen Erstaunen über das Wunder des Lebens, darüber, wie sehr ich meine Familie liebte und wie sie gedieh unter den bösen Fittichen dieses schrecklichen Ungeistes.
    Vielleicht war es bei allen Familien so, dachte ich. Im innersten Kern ein Fluch, ein Handel mit dem Satan. Eine furchtbare Sünde. Denn wie sonst kann man solchen Reichrum, solche Freiheit erlangen? Aber eigentlich glaubte ich das nicht. Im Gegenteil, ich glaubte an die Tugend.
    Ich sah meine Definition von Tugend. Gut sein, lieben, Vater sein, Mutter, nähren, heilen. Ich sah es in seiner strahlenden Schlichtheit. »Was kannst du tun, du Narr?« fragte ich mich. »Außer daß du deine Familie beschützt und ihr die Mittel gibst, aus eigener Kraft zu leben, stark und gesund und gut? Gib ihnen ein Gewissen und beschütze sie vor dem Bösen.«
    Da kam mir ein ernster, feierlicher Gedanke. Ich saß immer noch da, im warmen Lichtschein meiner Laterne, die hohen Kirchenwände zu beiden Seiten, das Gras vor mir flachgedrückt wie ein Bett. Ich schaute hoch und sah, daß der Mond in den großen Kreis des Rosettenfensters gewandert war. Das Glas war natürlich nicht mehr da. Ich wußte, daß es eine Rosette gewesen war, weil ich wußte,

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