Tanz der Hexen
Ziegelhäuser an der Magazine Street vorüberflogen, und er hörte das Gedicht.
Schmerz und Leiden, da sie noch stolpern,
Blut und Angst, eh sie noch gelernt.
25
Das also ist Stolov. Er wußte es, sowie er aus dem Flugzeug stieg. Sie hatten ihn den ganzen Weg verfolgt. Und da stand der große Mann und erwartete ihn, ein bißchen übertrieben muskulös in seinem schwarzen Regenmantel, mit großen Augen von blasser, unergründlicher Farbe, die aber trotzdem hell wie klares Glas leuchteten.
Der Mann hatte fast unsichtbare blonde Wimpern und buschige Brauen, und sein Haar war hell. Für Yuri sah er wie ein Norweger aus. Nicht wie ein Russe. Erich Stolov.
»Stolov«, sagte er, nahm seine Reisetasche in die Linke und streckte ihm die rechte Hand entgegen.
»Ah, Sie kennen mich«, sagte der Mann. »Ich war nicht sicher.« Ein Akzent. Skandinavisch, mit einer Spur von etwas anderem. Osteuropa.
»Ich erkenne unsere Leute immer«, sagte Yuri. »Warum kommen Sie nach New Orleans? Haben Sie mit Aaron Lightner zusammengearbeitet? Oder sind Sie einfach nur hier, um mich abzuholen?«
»Um Ihnen das zu erklären, bin ich gekommen.« Stolov legte Yuri ganz leicht die Hand auf den Rücken, als sie zusammen durch den mit Teppichboden ausgelegten Korridor gingen; Passagiere strömten an ihnen vorbei, und der hohle Raum schien alle warmen Laute zu verschlucken. Der Tonfall des Mannes war sehr kooperativ und offen. Aber Yuri traute der Sache nicht recht.
»Yuri«, sagte der Mann, »Sie hätten das Mutterhaus nicht verlassen sollen, aber ich verstehe, weshalb Sie es getan haben. Sie wissen jedoch, daß wir ein autoritärer Orden sind. Sie wissen, daß Gehorsam wichtig ist. Und Sie wissen, warum.«
»Nein. Sagen Sie mir, warum. Ich bin exkommuniziert worden. Ich bin nicht verpflichtet, mit Ihnen zu reden. Ich will zu Aaron. Das ist der einzige Grund, weshalb ich hier bin.«
»Das weiß ich natürlich«, sagte der andere und nickte. »Hier, wollen wir rasch einen Kaffee trinken?«
»Nein. Ich will zum Hotel. Ich will Aaron sehen, und zwar so schnell wie möglich.«
»Er könnte sich jetzt nicht mit Ihnen treffen, selbst wenn er es wollte«, sagte Stolov in leisem, versöhnlichem Ton. »Die Familie Mayfair befindet sich in einer Krise. Er ist bei ihnen. Außerdem ist Aaron ein altes und loyales Mitglied der Talamasca. Er wird nicht glücklich darüber sein, daß Sie so impulsiv gehandelt haben und einfach hergekommen sind. Ihre demonstrative Zuneigung könnte ihm sogar peinlich sein.«
Im stillen war Yuri wütend über diese Worte. Er konnte diesen großen blonden Mann nicht leiden.
»Yuri, Sie sind wertvoll für den Orden. Anton ist neu als Generaloberer. David Talbot hätte die Sache vielleicht sehr viel besser gehandhabt. In solchen Übergangszeiten geschieht es manchmal, daß wir Leute verlieren, die uns sehr wichtig sind.«
Der Mann deutete auf den leeren Coffeeshop, wo Porzellantassen schimmernd auf glatten Kunststofftischen standen. Es roch nach schwachem amerikanischem Kaffee.
»Nein. Ich will weiter«, sagte Yuri. »Ich werde Aaron finden, und dann können wir uns zu dritt unterhalten, wenn Sie möchten. Ich will Aaron sagen, daß ich hier bin.«
»Das geht jetzt nicht. Aaron ist im Krankenhaus«, sagte Stolov. »Rowan Mayfair ist gefunden worden. Aaron ist bei der Familie. Aaron ist in Gefahr. Darum ist es so wichtig, daß Sie sich anhören, was ich Ihnen zu sagen habe. Verstehen Sie das nicht? Dieses Mißverständnis zwischen uns – es ist entstanden, weil wir versucht haben, Aaron zu schützen. Und Sie.«
Yuri merkte, daß der Mann ihm buchstäblich den Weg verstellte. Der Mann war größer als er. Er war nicht so sehr eine Bedrohung als vielmehr ein wuchtiges Hindernis, kraftvoll und stur und erfüllt vom Glauben an sich selbst. Sein Gesicht war freundlich und intelligent, und wieder sprach er jetzt in diesem ruhigen, geduldigen Ton.
»Yuri, wir brauchen Ihre Mitarbeit. Sonst könnte Aaron etwas zustoßen. Sie könnten sagen, es ist eine Rettungsmission im Interesse Aaron Lightners. Aaron Lightner hat sich in die Belange der Familie Mayfair hineinziehen lassen. Er verfügt nicht mehr über ein klares Urteilsvermögen.«
»Warum nicht?«
Aber noch während er diese Frage stellte, gab Yuri nach. Er wandte sich um, ließ sich in das Restaurant führen und kapitulierte; er nahm dem großen Norweger gegenüber Platz und schaute schweigend zu, wie die Kellnerin den Auftrag erhielt, ihnen Kaffee und
Weitere Kostenlose Bücher