Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
sehen. Man sah nur ein Stück der Lippe, als seine dunkle Baritonstimme ertönte. »Aber wir wissen nicht, wer du bist oder was du hier tust. Wir wissen nicht, woher du kommst. Oder wie wir dich nach Hause schicken können.«
    Das war Englisch, modernes Englisch. Das alles stimmte doch nicht. Es war ein Traum.
    Was ist das für ein Grollen? Dieses Mahlen – ich kenne das Geräusch. Er wollte die Hand ausstrecken und es beenden. Ich kenne dieses Geräusch.
    Der nächste Stein mußte an die sechs Meter hoch sein, gezackt wie ein plumpes Messer, das aus der Erde ragte, und darauf waren Horden von Kriegern zu sehen, mit Speeren und Schilden.
    »Die Pikten«, sagte er.
    Sie starrten ihn an, als hätten sie ihn nicht verstanden.
    »Wenn wir dich hier lassen«, sagte der grauhaarige Mann, »kommen womöglich die kleinen Leute. Die kleinen Leute sind voller Haß. Die kleinen Leute werden dich fortschleppen. Sie werden versuchen, mit dir einen Riesen zu zeugen und die Welt zurückzuerobern. Du hast das Blut in dir, weißt du.«
    Ein scharfes, klingendes Geräusch hallte plötzlich über das wehende Gras unter der weiten Wölbung der wabernden Wolken. Und wieder ertönte es, das gleiche vertraute Klingen. Es war lauter als das leise Mahlen, das ohne Unterbrechung weiterging.
    »Ich weiß, was das ist!« sagte er zu ihnen. Er versuchte aufzustehen, fiel aber gleich wieder ins feuchte Gras. Wie sie seine Kleider anstarrten. Wie anders die ihren aussahen.
    »Das ist die falsche Zeit! Hört ihr dieses Geräusch? Es ist ein Telefon. Er will mich zurückholen.«
    Der große Mann kam näher. Seine bloßen Knie waren dreckverkrustet, seine langen Beine streifig vom Schmutz.
    »Ich selbst habe die kleinen Leute nie zu Gesicht bekommen«, sagte er. »Aber ich weiß, daß man sie fürchten muß. Wir können dich nicht hier lassen.«
    »Geht weg von mir«, sagte er. »Ich verschwinde. Dies ist ein Traum, und ihr solltet ihn verlassen. Wartet nicht mehr. Geht einfach. Ich habe zu tun! Wichtige Dinge, die getan werden müssen!«
    Und diesmal kam er vollends auf die Beine, wurde zurückgeschleudert und fühlte die Bodendielen unter seinen Händen. Wieder klingelte das Telefon. Wieder und wieder. Er versuchte die Augen zu öffnen.
    Da hörte es auf. Nein, ich muß aufwachen, dachte er. Ich muß aufstehen. Hör nicht auf zu klingeln. Er zog die Knie dicht an die Brust und rappelte sich auf alle viere hoch. Das mahlende Geräusch. Das Victrola. Der schwere Tonarm mit der groben kleinen Nadel war am Ende der Schallplatte hängengeblieben und mahlte, mahlte in der letzten Rille auf der Suche nach einem neuen Anfang.
    Licht in den beiden Fenstern. In seinen Fenstern. Und dort stand das Victrola unter Anthas Fenster; in kleinen goldenen Lettern stand VICTOR auf dem hochgeklappten Holzdeckel.
    Jemand kam die Treppe herauf.
    »Ja!« Er stand auf. Sein Zimmer. Das Zeichenbrett, sein Stuhl. Die Regale mit seinen Büchern. Viktorianische Architektur. Die Geschichte des Fachwerkhauses in Nordamerika. Meine Bücher.
    Es klopfte.
    »Mr. Mike, sind Sie da drin? Mr. Mike, Mr. Ryan ist am Telefon!«
    »Kommen Sie rein, Henri, kommen Sie nur rein.« Würde Henri hören, daß er Angst hatte? Würde er Bescheid wissen?
    Der Türknopf drehte sich, als wäre er lebendig. Das Licht vom Treppenabsatz fiel herein. Der kleine Kronleuchter hinter Henri ließ sein Gesicht so dunkel erscheinen, daß Michael es kaum erkennen konnte.
    »Mr. Mike, es gibt gute Nachrichten und schlechte Nachrichten. Sie lebt; sie haben sie gefunden, in St. Martinville in Louisiana. Aber sie ist krank, sehr krank; es heißt, sie kann sich nicht rühren und nicht sprechen.«
    »O Gott, sie haben sie gefunden! Und sie sind sicher, daß es Rowan ist?«
    Er hastete an Henri vorbei die Treppe hinunter. Henri folgte ihm und redete unablässig auf ihn ein; einmal streckte er die Hand aus, um Michael aufzufangen, als dieser beinahe hingefallen wäre.
    »Mr. Ryan ist auf dem Weg hierher. Der Coroner von St. Martinville hat angerufen. Sie hatte Papiere in der Handtasche. Und die Beschreibung paßt auf sie. Sie sagen, es ist Dr. Mayfair, ganz bestimmt.«
    Eugenia stand in seinem Schlafzimmer und hielt den Telefonhörer in der Hand.
    »Ja, Sir, wir haben ihn gefunden.«
    Michael nahm ihr den Hörer ab.
    »Ryan?«
    »Sie ist jetzt auf dem Heimweg«, sagte die kühle Stimme am anderen Ende. »Der Krankenwagen bringt sie geradewegs ins Mercy Hospital. Sie wird in etwa einer Stunde da sein. Michael, es

Weitere Kostenlose Bücher