Tanz der Hexen
Michael behandelt. Kümmerte es irgend jemanden, was dieser Mann empfand? Man mußte sich das vorstellen: Sie umgaben ihn mit Rowans Familie, als herrsche business as usual, während Rowan doch verschwunden war. Die ganze Sache war typisch für die Mayfairs: schlechte Menschenkenntnis, schlechte M a nieren, schlechte Moral, und das alles im Gewand irgendeiner hehren Familienfeier.
Ich bin nicht als Mensch geboren, ich bin als Mayfair geboren, dachte Gifford. Ich habe einen Mayfair geheiratet, und ich h a be Mayfairs geboren; ohne Zweifel werde ich als Mayfair ste r ben, und sie werden ins Bestattungsinstitut strömen und im Mayfair-Stil weinen, und das wird dann mein Leben gewesen sein? Daran dachte Gifford in letzter Zeit oft, aber Rowans Verschwinden hatte sie fast an den Rand des Abgrunds g e trieben. Wieviel konnte sie noch ertragen? Und wieso hatte sie Rowan und Michael nicht davor gewarnt, zu heiraten, in di e sem Haus zu leben, ja, auch nur in New Orleans zu bleiben?
Und dann die ganze Sache mit Mayfair-Medical – diesem g i gantischen neurologischen Forschungskomplex, den Rowan vor ihrem Verschwinden entworfen hatte, ein Unternehmen, das bei Hunderten von Verwandten Begeisterung hervorgerufen hatte, vor allem bei Giffords ältestem und liebstem Sohn Pierce, dem es jetzt das Herz brach, daß die Arbeit für das medizinische Zentrum wie alles andere, was Rowan betraf, auf unabsehbare Zeit auf Eis lag.
Selbst Lilia, Giffords jüngste und ihr am meisten fremdgewordene Tochter, die jetzt in Oxford war, hatte nach Hause geschrieben und darauf bestanden, daß sie das medizinische Zentrum – koste es, was es wolle – weiterführten.
Und dann Michaels letztendliches Schicksal. Wie sollte es aussehen? Er war auf dem Wege der Genesung, sagten alle. Aber wie konnten sie Michael sagen, wie schlecht die Dinge wirklich standen, ohne daß er einen Rückfall erleiden würde? Michael könnte noch einen Herzanfall bekommen, und die s mal könnte er tödlich sein.
Also hat das Erbe der Mayfairs wieder mal einen unschuldigen Mann vernichtet, dachte Gifford verbittert. Kein Wunder, daß wir alle unsere Vettern heiraten; wir wollen keine Unschuldigen mehr mit hineinziehen.
Was den Gedanken anging, daß Rowan in echter Gefahr war, daß sie irgendwie gezwungen worden sein könnte, am Weihnachtstag zu verschwinden, daß ihr etwas zugestoßen sein könnte – dieser Gedanke war beinahe so schrecklich, daß Gifford ihn nicht ertragen konnte. Und dennoch war sie zie m lich sicher, daß Rowan etwas passiert war. Etwas wirklich Schlimmes. Sie spürten es alle. Mona spürte es, und wenn Giffords Nichte Mona etwas spürte, dann mußte man darauf achten. Mona war nie eine melodramatisch veranlagte, gro ß spurige Mayfair gewesen, die behauptete, sie habe in der Straßenbahn in der St. Charles Avenue einen Geist gesehen. Und Mona hatte letzte Woche gesagt, sie glaube nicht, daß man mit Rowans Rückkehr rechnen könne, und wenn sie das Medical Center haben wollten, sollten sie ohne sie weiterm a chen.
Was Gifford insgeheim am meisten bereute, war die Tatsache, daß sie Rowan nicht mit Mona zusammengebracht hatte, als noch Zeit dazu gewesen war. Vielleicht hätte Mona etwas g e spürt und den Mund aufgemacht. Aber Gifford bereute so vi e les. Manchmal kam es ihr so vor, als bestehe ihr ganzes Leben aus einem einzigen reuevollen Seufzer. Unter der re i zenden Oberfläche, hinter dem Bilderbuchhaus in Metairie, ihren prachtvollen Kindern, ihrem gutaussehenden Ehemann und ihrem eigenen gedämpften Südstaatenstil – hinter alldem lag nichts als Reue, als sei ihr ganzes Leben über einem gr o ßen, geheimen Kellerverlies erbaut.
Sie wartete nur noch darauf, die Nachricht zu hören. Rowan tot. Und zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren keine Nachfolgerin für das Vermächtnis. Ah, das Vermächtnis… und wie sollte sie es jetzt, nachdem sie Aaron Lightners langen Bericht gelesen hatte, je wieder so sehen wie früher? Wo war der kostbare Smaragd, fragte sie sich. Sicher hatte ihr tücht i ger Ehemann Ryan ihn in einem angemessenen Tresor ve r steckt. Da hätte er auch diese entsetzliche »Geschichte« verstecken sollen. Sie könnte ihm nie verzeihen, daß er so nachlässig war, sie in Monas Hände fallen zu lassen, diese lange Erörterung der Talamasca über Generationen der Hex e rei.
Vielleicht hatte Rowan sich mit dem Smaragd davongemacht. Oh, das erinnerte sie an etwas anderes, an einen der eher zweitklassigen Anlässe zur Reue:
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