Tanz der Hexen
reichte ihm einen frischen Drink, einen schönen doppelten Martini, um den er nicht einmal hatte bitten müssen. Er nahm einen kräftigen Schluck von dem eiskalten Getränk.
Dann fiel ihm siedendheiß ein, daß Mitch ihm erzählt hatte, er könne eine dreidimensionale Computerprojektion von dem Wesen erstellen. Warum, zum Teufel, hatte er sich das nicht angesehen? Natürlich wäre es nichts weiter gewesen als i r gendeine verrückte Zeichnung auf dem Monitor, bloße Umri s se. Was wußte Mitchell über das wirkliche Aussehen der Kreatur? War sie zum Beispiel häßlich? Oder war sie schön?
Unversehens versuchte er, es sich vorzustellen, dieses schilfdünne Wesen mit dem großen Gehirn und den unglaublich langen Händen.
4
Noch eine Stunde bis Aschermittwoch. Alles war still in dem kleinen Haus am Golf mit den vielen offenen Türen zum we i ßen Strand. Die Sterne hingen tief über dem fernen, dunklen Horizont, einer hellen Linie zwischen Himmel und Meer. Der sanfte Wind wehte durch die kleinen, niedrigen Zimmer des Hauses und brachte tropische Frische in jedes Eckchen, o b gleich es kalt war in dem kleinen Haus.
Gifford störte das nicht. In einen langen, weiten Shetlandpullover mit Rollkragen gepackt und mit behaglichen Wollstrümpfen an den Beinen, genoß sie die kühle Brise ebenso wie die wilde und ganz eigentümliche Hitze des munteren K a minfeuers. Die Kälte, der Geruch des Wassers, der Geruch des Feuers – für Gifford bedeutete das alles Florida im Winter: ihr Versteck, ihre Zuflucht, ihren sicheren Unterschlupf.
Sie lag auf der Couch vor dem Kamin, starrte an die weiße Decke, sah zu, wie das Licht darauf spielte, und fragte sich unbeteiligt und ohne Neugier, was Destin eigentlich an sich hatte, das sie so glücklich machte – wieso es ihr immer eine so vorzügliche Zuflucht vor der beständigen Düsternis ihres Lebens zu Hause bot. Sie hatte dieses kleine Strandhaus von ihrer Urgroßmutter väterlicherseits, Dorothy, geerbt, und im Laufe der Jahre hatte sie hier ihre zufriedensten Augenblicke erlebt.
Jetzt jedoch war Gifford nicht glücklich. Sie hätte sich nur noch elender gefühlt, wenn sie zum Mardi Gras in New Orleans g e blieben wäre, und das wußte sie. Sie kannte dieses Elend. Sie kannte diese Anspannung. Und sie wußte, daß sie am Mardi Gras nicht in das alte Haus in der First Street hätte gehen können, so gern sie es vielleicht gewollt hätte, und auch, wenn sie jetzt Gewissensbisse hatte, weil sie weggelaufen war.
Mardi Gras in Destin, Florida. Hätte ebenso gut jeder andere Tag im Jahr sein können. Sauber und still, fern von all der Häßlichkeit der Paraden, der Menschenmassen, des Mülls, der die St. Charles Avenue übersäte, fern von den trinkenden und streitenden Verwandten und ihrem geliebten Gatten Ryan, der sich benahm, als wäre Rowan Mayfair nicht weggelaufen und hätte ihren Mann Michael Curry nicht verlassen, als hätte es am Weihnachtstag kein blutiges Handgemenge in der First Street gegeben, als könnte man alles beschönigen und übe r tünchen, wenn in Wirklichkeit alles auseinanderbrach.
Michael Curry wäre am Weihnachtstag beinahe gestorben. Niemand wußte, was mit Rowan passiert war. Das alles war zu schrecklich, und das wußte jeder, aber trotzdem wollten alle an Mardi Gras im Haus in der First Street zusamme n kommen. Nun, jetzt würden sie Gifford erzählen müssen, wie es gewesen war.
Natürlich war das große Mayfair-Erbe an sich nicht ernstlich in Gefahr. Giffords gewaltiges Treuhandvermögen war nicht ernstlich in Gefahr. Der Geisteszustand der Mayfairs war es, der bedroht war – der kollektive Geist von etwa sechshundert in der Gegend ansässigen Mayfairs, manche im dritten oder vierten Grad miteinander verwandt, die erst kürzlich durch die Hochzeit der Erbin des Mayfair-Vermächtnisses, Rowan Ma y fair, in himmlische Höhen erhoben und dann durch ihr plötzl i ches Verschwinden und das offenkundige Leiden Michael Currys in tiefste Verzweiflung gestürzt worden waren, während Michael sich immer noch von der Herzattacke erholte, die er am fünfundzwanzigsten Dezember erlitten hatte. Armer M i chael. Er war in dem einen Januar um zehn Jahre gealtert, fand Gifford.
Sich am Mardi Gras in dem Haus zu versammeln, war kein Akt des Vertrauens, sondern der Verzweiflung gewesen – der Versuch, sich einen Optimismus und eine Erregung zu bewahren, die man nach diesem Nachmittag des Grauens nicht mehr bewahren konnte. Und wie schrecklich hatten sie alle
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