Tanz der Hexen
Sie hatte vergessen, Mich a el das Medaillon zu schicken.
Sie hatte es am Pool gefunden, gerade zwei Tage nach Weihnachten, als Kriminalpolizei und Coroner mit ihren Untersuchungen im Innern des Hauses beschäftigt waren, und während Aaron Lightner und sein merkwürdiger Kollege, dieser Erich Sowieso, Proben von den Blutspuren nahmen, die Wä n de und Teppiche bedeckten.
»Ist dir klar, daß sie das alles in diese Akte schreiben werden?« hatte Gifford protestiert, aber Ryan hatte den beiden Männern freie Hand gelassen. Es war Lightner. Jeder hatte Vertrauen zu ihm. Ja, Beatrice war sogar verliebt in ihn; Gi f ford würde sich nicht wundern, wenn sie ihn heiratete.
Das Medaillon zeigte den Erzengel Michael. Ein prachtvolles altes Silbermedaillon an einer gerissenen Kette. Sie hatte es in die Handtasche gesteckt und sich schon tausendmal vorg e nommen, es ihm zu schicken – natürlich erst, wenn er aus dem Krankenhaus wieder nach Hause gekommen wäre, denn er sollte sich ja nicht aufregen. Na, sie hätte es Ryan geben sollen, bevor sie weggefahren war. Andererseits, wer konnte wissen, ob er das Medaillon nicht am Weihnachtstag getragen hatte, als er beinahe im Pool ertrunken wäre? Armer Michael.
Das Holz im Feuer verrutschte geräuschvoll, und das milde, beruhigende Licht flackerte über die schmucklose, schräge Decke. Es machte ihr bewußt, wie ruhig die Brandung den ganzen Tag über gewesen war. Manchmal legte sich die Brandung am Golf von Mexiko vollständig. Ob das auf dem offenen Meer auch passierte? Eigentlich liebte sie das Geräusch der Wellen. Sie wünschte, sie wollten donnern da draußen, als drohe der Golf damit, das Land zu überfluten. Als schlage die Natur zurück, gegen Strandhäuser und Apartmentkomplexe und Wohnwagenparks, um sie alle daran zu erinnern, daß sie jeden Augenblick vom glatten, sandigen Antlitz der Erde hinweggefegt werden konnten, wenn ein Hurrikan oder eine Flutwelle käme. Und sicher würde das eine oder das andere auch unweigerlich kommen.
Gifford gefiel diese Idee. Sie schlief immer gut, wenn die We l len wild und schnell heranbrandeten. Ihre Angst und ihr Ja m mer rührten nicht aus der Furcht vor irgend etwas Natürlichem. Sie kamen aus Legenden und Geheimnissen, den Geschichten aus der Vergangenheit ihrer Familie. Ihr kleines R e fugium liebte sie wegen seiner Zerbrechlichkeit; ein Unwetter würde es zweifellos zusammenklappen lassen wie ein Kartenhaus.
Am Nachmittag war sie ein paar Meilen weit südwärts gewandert, um das Haus zu besichtigen, das Rowan und Mich a el erst kürzlich gekauft hatten, ein hohes, modernes Gebäude, gebaut, wie man es bauen sollte – auf Pfählen und mit Blick hinunter auf ein menschenleeres Stück Strand. Es war kein Lebenszeichen dort zu sehen gewesen, aber was hatte sie erwartet?
Sie war zurückgewandert, zutiefst deprimiert vom bloßen A n blick des Hauses – wie sehr hatten Rowan und Michael es geliebt; sie hatten ihre Flitterwochen dort verbracht.
Noch eine Stunde bis Aschermittwoch; sie wartete darauf, als warte sie auf die Hexenstunde, angespannt und voller Widerwillen gegen den Mardi Gras, einen Festtag, der sie nie b e sonders glücklich gemacht und zu dem immer sehr viel mehr gehört hatte, als sie ertragen konnte.
Sie wollte wach sein, wenn er zu Ende wäre; sie wollte spüren, wie die Fastenzeit begann. Am Abend hatte sie das Feuer angefacht und sich einfach auf die Couch fallen lassen, um sich die Stunden mit Nachdenken zu vertreiben, als arbeite sie an etwas; sie hatte die Minuten gezählt und natürlich ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie nicht zur First Street gegangen war und nicht alles mögliche unternommen hatte, um diese Katastrophe zu verhindern.
Ich hätte Michael Curry warnen sollen, dachte sie. Ich hätte Rowan Mayfair warnen sollen. Aber sie hatten die Geschichte gelesen! Sie hätten es wissen müssen! Niemand konnte in dem Haus in der First Street glücklich sein. Es wiederherz u richten – das war der blanke Unsinn gewesen. Das Böse in diesem Haus wohnte in jedem Mauerstein, in jedem Bröc k chen Mörtel. Dreizehn Hexen – und wenn man bedachte, daß all die alten Sachen von Julien oben auf dem Dachboden standen. Das Böse wohnte in diesen Dingen, es wohnte in den Stuckdecken, unter den Veranden und Dachrinnen wie Bi e nennester, die in den Kapitellen korinthischer Säulen verbo r gen waren. Für das Haus gab es keine Hoffnung, keine Zukunft. Und Gifford hatte es schon immer gewußt.
Da hatten
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