Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Und deshalb sagte er sofort in das Schweigen hinein: »Uralte Evelyn, es ist etwas Schreckliches pa s siert.«
    »Was denn, mein Sohn?« fragte sie ungewohnt warmherzig. Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren zerbrechlich und klein, nicht wie die Stimme, die sie immer gekannt hatte.
    »Man hat Gifford am Strand in Destin gefunden. Es heißt -« Ryans Stimme brach, und er konnte nicht weitersprechen. Dann kam sein Sohn Pierce ans Telefon und sagte, er und sein Vater würden zusammen hinauffahren. Ryan meldete sich wieder: Sie müsse bei Alicia bleiben, denn Alicia würde verrückt werden, wenn sie es »hörte«.
    »Ich verstehe«, sagte die uralte Evelyn. Und sie verstand es auch. Gifford war nicht bloß verletzt. Gifford war tot. »Ich we r de Mona suchen«, sagte sie leise. Sie wußte nicht, ob sie es überhaupt gehört hatten.
    Ryan sagte unbestimmt, verwirrt, gehetzt, daß man sie später wieder anrufen werde und daß Lauren »die Familie« informierte. Dann war das Gespräch zu Ende, und die uralte Ev e lyn legte den Hörer auf die Gabel und ging zum Schrank, um ihren Gehstock herauszuholen.
    Sie mochte Lauren Mayfair nicht besonders. Für die uralte Evelyn war Lauren Mayfair eine spröde, arrogante Anwältin, eine sterile, frostige Geschäftsfrau der schlimmsten Sorte, die juristische Dokumente immer schon den Menschen vorgez o gen hatte. Aber sie eignete sich vorzüglich dazu, alle Welt zu informieren. Nur nicht Mona. Und Mona war nicht da. Aber Mona mußte es erfahren.
    Mona war im Haus in der First Street. Das wußte die uralte Evelyn. Vielleicht suchte sie das Victrola und die wunderschönen Perlen.
    Die uralte Evelyn hatte die ganze Nacht gewußt, daß Mona nicht da war. Aber sie brauchte sich nie ernsthaft Sorgen um Mona zu machen. Mona würde all das tun, was jeder im Leben gern tun wollte. Sie würde es für ihre Großmutter Laura Lee und für ihre Mutter CeeCee und für die uralte Evelyn tun. Und für Gifford…
    Gifford tot. Wieso habe ich nichts gespürt, als es passierte? Wieso habe ich ihre Stimme nicht gehört?
    Aber zurück zu praktischen Dingen. Die uralte Evelyn stand im Flur und überlegte, ob sie allein hinuntergehen und sich auf die Suche nach Mona begeben sollte, hinaus auf die holprigen Straßen, auf die mit Kopfstein und Platten gepflasterten Gehwege, auf denen sie hinfallen konnte, aber nie hingefallen war; und dann dachte sie, daß sie es mit ihren neuen Augen wohl schaffen könnte. Ja, und wußte man’s? Vielleicht würde sie zum letzten Mal wirklich etwas sehen.
    Vor einem Jahr hätte sie nicht zu Fuß in die Stadt gehen kö n nen. Aber der junge Dr. Rhodes hatte ihr den Star aus den Augen operiert. Und jetzt konnte sie so gut sehen, daß es die Leute verblüffte. Das heißt, wenn sie ihnen sagte, was sie sah, was sie aber nicht oft tat.
    Die uralte Evelyn wußte genau, daß es auf das Reden kaum ankam. Sie redete manchmal jahrelang nicht. Die Leute nahmen es beiläufig zur Kenntnis. Die Leute machten, was sie wollten. Ohnehin würde ihr niemand erlauben, Mona ihre Geschichten zu erzählen.
    Außerdem, was hatte es genützt, Alicia und Gifford ihre G e schichten zu erzählen? Was war aus ihrem Leben geworden? Und Giffords Leben war vorbei.
    Es war unglaublich, daß Gifford tot sein konnte. Ganz und gar tot.
    Die uralte Evelyn ging in Alicias Zimmer. Alicia schlief, zusammengekrümmt wie ein kleines Kind. In der Nacht war sie aufgestanden und hatte eine halbe Flasche Whiskey getru n ken, als wäre es Medizin. Diese Art zu trinken konnte tödlich sein. Alicia hätte sterben sollen, dachte die uralte Evelyn. So war es gedacht. Das Pferd ist durch das falsche Tor gelaufen. Sie legte die Strickdecke über Alicias Schultern und ging hi n aus.
    Langsam bewegte sie sich die Treppe hinunter, sehr, sehr langsam, und sorgfältig prüfte sie jede Stufe mit dem Gummistopper ihres Gehstocks, stieß und stocherte im Teppich he r um, um sicherzugehen, daß dort nichts lauerte, worüber sie stolpern und fallen könnte. An ihrem achtzigsten Geburtstag war sie gefallen. Das war die schlimmste Zeit im Alter gew e sen, als sie im Bett gelegen und darauf gewartet hatte, daß ihre Hüfte wieder heilte. Aber ihrem Herzen hätte es gutgetan, hatte Dr. Rhodes gesagt. »Sie werden noch hundert Jahre alt.«
    Dr. Rhodes hatte sich gegen die anderen zur Wehr gesetzt, als sie meinten, sie sei zu alt für die Augenoperation. »Sie wird blind, begreifen Sie das nicht? Ich kann dafür sorgen, daß sie wieder sehen

Weitere Kostenlose Bücher