Tanz der Hexen
kann. Und ihr Denkvermögen ist noch tadellos.«
Ihr Denkvermögen – das Wort hatte ihr gefallen, und das hatte sie ihm gesagt.
»Warum sprechen Sie nicht öfter mit ihnen?« hatte er sie im Krankenhaus gefragt. »Sie wissen doch, daß sie Sie für ein schwachsinniges altes Weib halten.«
Sie hatte sich ausgeschüttet vor Lachen. »Aber das bin ich doch auch«, hatte sie gesagt. »Und die, mit denen ich gern gesprochen habe, sind alle nicht mehr da. Jetzt gibt es nur noch Mona. Und Mona redet die meiste Zeit selber.«
Wie hatte er darüber gelacht.
Schon als Heranwachsende hatte die uralte Evelyn so wenig wie möglich gesprochen. Die Wahrheit war, sie hätte womö g lich überhaupt nie viel mit irgendeiner Menschenseele gespr o chen, wenn Julien nicht gewesen wäre. Und eines wollte sie auf jeden Fall noch tun: Sie wollte Mona eines Tages alles über Julien erzählen. Vielleicht sollte dieser Tag heute sein. Es durchfuhr sie mit schimmernder Macht: Erzähle es Mona! Das Victrola und die Perlen sind in jenem Haus. Mona kann sie jetzt haben.
Vor dem Spiegel mit dem Hutständer im Alkoven blieb sie st e hen. Sie war zufrieden: Ja, sie war bereit zum Ausgehen.
Sie ging den langen, hohen Hausflur hinunter und öffnete die Haustür. Ein Jahr war es her, daß sie die vordere Treppe mit eigener Kraft hinuntergegangen war. Es gab nichts zum Festhalten. Das Geländer war schon vor Jahren einfach verrottet, und Alicia und Patrick hatten nichts unternommen; sie hatten es einfach nur abgerissen und weggeworfen.
»Mein Urgroßvater hat dieses Haus gebaut!« hatte sie erklärt. »Er hat diese Geländer selbst ausgesucht, hat sie persönlich aus dem Katalog gewählt. Und seht euch an, was ihr daraus habt werden lassen.« Zum Teufel mit ihnen allen.
Und zum Teufel auch mit ihm, wenn sie darüber nachdachte. Wie hatte sie ihn gehaßt, den Riesenschatten, der über ihrer Kindheit gelegen hatte, den rasenden Tobias, der ihre Hand gepackt und festgehalten und sie angezischt hatte: »Hexe, Hexenmal, schau’s nur an.« Und er hatte diesen winzigen sechsten Finger gezwickt. Sie hatte nie darauf geantwortet, hatte ihn nur stumm gehaßt. Sein Leben lang hatte sie kein einziges Wort mit ihm gesprochen.
Aber wenn ein Haus zur Ruine verfiel, war das wichtiger als die Frage, ob man den Menschen gehaßt hatte, der es gebaut hatte. Vielleicht war es ja das einzig Gute, was Tobias Mayfair je getan hatte: dieses Haus zu bauen. Fontrevault, die eins t mals schöne Pflanzung, war im Sumpfland draußen eing e gangen; das hatte man ihr jedenfalls immer erzählt, wenn sie hingewollt hatte, um sie anzuschauen. »Das alte Haus? Der Bayou hat es überflutet.« Aber vielleicht hatten sie auch gel o gen. Wenn sie nun den ganzen Weg bis Fontrevault zu Fuß gehen und das Haus dort stehen sehen könnte?
Das war sicher nur ein Traum. Aber das Haus in der Amelia Street stand mächtig und schön an der Ecke der Avenue. Und man mußte etwas tun, etwas tun, etwas tun…
Mit oder ohne Geländer, mit ihrem Gehstock kam sie tadellos zurecht, zumal jetzt, da sie wieder so gut sehen konnte. Mühelos brachte sie die Treppe hinter sich, ging geradewegs den Gartenweg hinunter und öffnete das Eisentor. Was für eine Vorstellung! Zum ersten Mal seit all den Jahren verließ sie das Haus.
Wie deutlich und klar sah sie die schwarzborkigen Eichen und das niedergedrückte Gras zwischen den Bäumen in den Par k anlagen. Sie sah, daß immer noch Müll und Überreste vom Mardi Gras die Gossen verstopften und daß die Mülltonnen, die nie groß genug waren, davon überquollen.
Sie ging weiter, vorbei an den tristgrauen, schäbigen Mobiltoiletten, die sie jetzt zum Mardi Gras immer aufstellten, und der elende Gestank von all dem Dreck drang ihr in die Nase. Weiter und immer weiter, bis zur Louisiana Avenue. Abfall, wohin sie auch blickte, und von den hohen Ästen der Bäume hingen die Mardi-Gras-Halsketten aus Plastikperlen, die sie jetzt von den Prunkwagen warfen, und glitzerten im Sonnenlicht. Es gab nichts so Klägliches auf der Welt, dachte sie, wie die St. Charles Avenue am Tag nach Mardi Gras.
Sie wartete, daß die Ampel umsprang. Eine alte Schwarze, sehr ordentlich gekleidet, wartete ebenfalls. »Guten Morgen, Patricia«, sagte die uralte Evelyn, und die Frau riß unter ihrem schwarzen Strohhut die Augen auf.
»Ja, Miss Evelyn! Was machen Sie denn so weit hier unten?«
»Ich gehe in den Garden District. Ich kann es schon, Patricia. Ich habe ja meinen Stock.
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