Tanz der Hexen
Meine Nichte ist oben im Garden District. Ich muß ihr das Victrola geben.« Und dann wurde ihr klar, daß Patricia nichts von all diesen Dingen wußte. Patricia war zwar viele Male am Tor stehen geblieben, um zu pla u dern, aber sie kannte nicht die ganze Geschichte. Wie konnte sie auch? Einen Moment lang hatte die uralte Evelyn geglaubt, sie spreche mit jemandem, der Bescheid wußte.
Patricia redete immer noch, aber die uralte Evelyn hörte nichts mehr. Die Ampel war grün. Sie mußte hinüber.
Sie ging los, so schnell sie konnte, außen um den erhöhten Zementstreifen herum, der die Straße in der Mitte teilte, denn dort hinauf- und wieder hinunterzusteigen wäre eine unnötige Strapaze gewesen.
Für die Ampel war sie natürlich zu langsam; das war schon vor zwanzig Jahren so gewesen, als sie diesen Weg noch regelmäßig gemacht hatte, um an dem Haus in der First Street vo r beizugehen und einen Blick auf die arme Deirdre zu werfen.
All die Jungen aus dieser Generation zum Unheil verdammt, dachte sie – sozusagen ein Opfer der Bosheit und der Dum m heit Carlotta Mayfairs. Carlotta Mayfair hatte ihre Nichte Dei r dre mit Drogen betäubt und ermordet. Aber warum jetzt daran denken?
Anscheinend gab es tausend verwirrende Gedanken, die die uralte Evelyn jetzt plagten.
Cortland, Juliens geliebter Sohn: tot nach einem Treppensturz – das war auch nur Carlottas Schuld gewesen, nicht wahr?
Und wenn man bedachte, daß Cortland der Vater der uralten Evelyn gewesen war. Na ja, das war nie so wichtig gewesen, im Grunde wenigstens nicht. Julien war wichtig gewesen, ja, und Stella, aber Eltern – nein.
Barbara Ann war bei der Geburt der uralten Evelyn gestorben. Sie war eigentlich keine Mutter. Eine Kamee nur, ein Schere n schnitt, ein Porträt in Öl. »Siehst du? Das ist deine Mutter.« Eine Truhe mit alten Kleidern, ein Rosenkranz und eine u n vollendete Stickerei, ein Parfümbeutel vielleicht.
Wie ihre Gedanken umherschweiften… Aber sie hatte Morde gezählt, nicht wahr? Die Morde, die Carlotta Mayfair begangen hatte. Inzwischen war sie tot, Gott sei dank, tot und dahin.
Der Mord an Stella, das war der schlimmste von allen. Das war Carlotta gewesen, kein Zweifel. Ganz sicher lag diese Tat auf Carlottas Gewissen. Und in den rosigen Tagen von 1914 hatten Evelyn und Julien gewußt, daß so schreckliche Dinge bevorstanden, aber sie hatten beide nichts dagegen tun kö n nen.
Einen kurzen Augenblick lang sah die uralte Evelyn die Worte des Gedichtes wieder vor sich, wie sie sie an jenem längst vergangenen Tag gesehen hatte, als sie es Julien in seinem Schlafzimmer unter dem Dach vorgetragen hatte. »Ich sehe es. Ich weiß nicht, was es bedeutet.«
Schmerz und Leiden, da sie noch stolpern,
Blut und Angst, eh sie noch gelernt.
Wehe diesem Frühlings-Eden,
Das nun ist ein Jammertal.
Ah, was für ein Tag das war. So vieles fiel ihr wieder ein, und doch war auch die Gegenwart frisch und süß. Und der Wind war so gut zu ihr.
Und die uralte Evelyn ging weiter und immer weiter.
Sie hatte fest geglaubt, daß sie in dem Jahr sterben würde, in dem Stella gestorben war. Und beim Tode Laura Lees war es genauso gewesen. Ihre einzige Tochter. Sie hatte gedacht, wenn sie nicht mehr spräche, würde der Tod kommen und sie holen.
Aber er war nicht gekommen. Alicia und Gifford hatten sie g e braucht. Dann hatte Alicia geheiratet. Und Mona brauchte sie auch. Monas Geburt hatte der uralten Evelyn eine neue Sti m me gegeben.
Oh, sie wollte die Dinge nicht aus dieser Perspektive betrachten. Nicht an einem so wundervollen Morgen.
Welches war die größte Liebe ihrer Blütejahre gewesen? Julien in dem verschlossenen Zimmer oder Stella mit den großen Abenteuern? Sie konnte sich nicht entscheiden.
Eines stimmte. Julien war derjenige, der sie heimsuchte, Julien war es, den sie in ihren Wachträumen sah, und Juliens Stimme hörte sie. Es gab eine Zeit, da war sie sich sicher, daß Julien gleich die Vordertreppe heraufkommen würde, wie er es getan hatte, als sie dreizehn gewesen war, als er ihren U r großvater beiseite gestoßen hatte. »Laß das Mädchen frei, du verdammter Trottel!« Und sie da oben auf dem Dachboden hatte vor Angst gezittert. Julien will mich fortbringen, umbri n gen. Es würde einleuchten, oder? Und Julien umschwebte sie immer noch. »Zieh das Victrola auf, Evelyn. Sag meinen N a men.«
Stellas Verschwinden mit ihrem tragischen Tod war abrupter und totaler; sie verlor sich in süßer,
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