Tanz der Hexen
daß dunkle Zeiten bevorstanden.
Aber, oh, auf ihre Art waren sie so sorglos gewesen, der alte Mann und das stumme Kind. Nachmittags hatte er sie geliebt, sehr langsam, ein bißchen schwerer und schwerfälliger als Stella später, ja, aber er war auch ein alter Mann gewesen, nicht wahr? Er hatte sich dafür entschuldigt, daß er so lange gebraucht hatte, um zum Ende zu kommen, aber welche Freuden hatte er ihr geschenkt mit seinen Küssen dort unten, mit seinen Umarmungen und seinen geschickten Fingern und den geheimen kleinen, erotischen Worten, die er ihr ins Ohr raunte, während er sie berührte. Das war es, was die beiden auszeichnete: Sie hatten gewußt, wie man sie berühren und küssen mußte.
Sie machten die Liebe zu einem sanften, reichen Erlebnis. Und wenn die Gewalt dann kam, war man bereit. Man wollte sie.
»Dunkle Zeiten«, sagte er. »Ich kann dir nicht alles erzählen, mein hübsches Mädchen. Ich wage nicht, es dir zu erklären. Sie hat meine Bücher verbrannt, weißt du, da draußen auf dem Rasen. Sie hat verbrannt, was mir gehörte. Damit hat sie mein Leben verbrannt. Aber ich möchte, daß du etwas für mich tust. Bring das Victrola aus dem Haus. Du mußt es b e halten, zur Erinnerung an mich. Es gehört mir, dieses Ding. Ich habe es geliebt, berührt, mit meinem Geist erfüllt, so gut ein täppischer Sterblicher einen Gegenstand mit Geist erfüllen kann. Bewahre es sicher auf, Evelyn, und spiele den Walzer für mich. Und dann gib es denen weiter, die Gefallen daran haben können, wenn Mary Beth dahingegangen ist. Mary Beth kann ebenso wenig ewig leben wie ich. Laß niemals zu, daß Carlotta es bekommt. Es wird eine Zeit kommen…«
Und er war wieder in Trauer versunken.
»Ich kann es nicht ändern«, hatte er gesagt. »Ich sehe es, aber ich kann nichts tun. Ich weiß nicht mehr als andere, was wirklich möglich ist. Was ist, wenn die Hölle absolute Einsa m keit bedeutet? Was ist, wenn da niemand ist, den man hassen kann? Wenn sie ist wie die dunkle Nacht über Donnelaith? Dann kommt Lasher aus der Hölle.«
»Hat er das jetzt wirklich alles gesagt?« hatte Stella Jahre sp ä ter gefragt, und nur einen Monat nach diesem Gespräch war Stella selbst erschossen worden. Im Jahr 1929 schlössen Stellas Augen sich für immer.
»Weißt du, Entchen, es könnte sein, daß ich mit diesem Mann von der Talamasca nach England durchbrenne«, hatte Stella in jenen letzten Wochen ihres Lebens gesagt. Sie hatte aufg e hört, ihre Spaghetti zu essen, als sei dies eine Entscheidung, die auf der Stelle getroffen werden müsse, mit der Gabel in der Hand. Aus der First Street fliehen, vor Lasher fliehen, Hilfe bei diesen seltsamen Gelehrten suchen.
»Aber Julien hat uns vor diesen Leuten gewarnt, Stella. Er sagt, sie sind die Alchimisten in meinem Gedicht. Er sagt, auf lange Sicht werden sie uns nur schaden. Stella, das hat er gesagt; wir sollten lieber nie wieder mit ihnen sprechen!«
»Weißt du, dieser Talamasca-Mann, oder was immer er ist, wird herausfinden, was mit diesem anderen passiert ist und daß die Leiche auf dem Dachboden liegt. Wenn du Mayfair heißt, kannst du umbringen, wen du willst, und niemand wird etwas unternehmen. Niemand ahnt, was du treibst.« Sie hatte mit den Achseln gezuckt, und einen Monat später hatte ihr eigener Bruder Lionel sie umgebracht. Keine Stella mehr.
Und niemand mehr, der von dem Victrola wußte, oder von Julien und Evelyn in Juliens Schlafzimmer. Evelyns einzige lebende Zeugin war ins Grab gelegt worden.
Es war kein Kinderspiel gewesen, das Victrola während Juliens letzter Krankheit aus dem Haus zu schaffen. Er hatte einen Zeitpunkt abgewartet, als Mary Beth und Carlotta nicht zu Hause waren, und dann hatte er die Jungen hinunterg e schickt, damit sie ihm eine andere »Musicbox«, wie er es har t näckig nannte, aus dem Eßzimmer heraufholten.
Und erst als der große Plattenspieler mit voller Lautstärke lief, hatte er gesagt, sie solle das kleine Victrola nehmen und weglaufen. Sie sollte im Gehen singen dabei, singen, laut singen, bis sie zu Hause wäre.
»Die Leute werden mich für verrückt halten«, hatte sie leise gesagt, und sie hatte auf ihre Hände geschaut, auf den kleinen sechsten Finger an der linken – das Hexenmal.
»Kümmert es dich, was sie denken?« Sein Lächeln war immer so wunderschön gewesen. Nur im Schlaf sah er so alt aus, wie er war. Er hatte die große »Musicbox« aufgezogen. »Du nimmst diese Platten von meiner Oper – ich habe noch
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