Tanz der Hexen
an der Hand, schau doch, genau wie du!«
Es war nichts Schlimmes, nur ein winziger sechster Finger. Ja, die meisten Leute hatten ihn gar nicht bemerkt, obwohl Laura Lee so befangen deshalb gewesen war, und niemand im Heiligen Herzen hatte gewußt, was es bedeutete.
»Das Mal der Hexe«, hatte Tobias immer gesagt. »Davon gibt es viele. Rotes Haar ist das schlimmste, der sechste Finger das zweitschlimmste und Riesengröße das drittschlimmste. Und du mit dem sechsten Finger. Zieh doch in die First Street und wohne bei den Verdammten, die dir deine Talente geg e ben haben. Verschwinde aus meinem Haus.«
Natürlich war sie nicht gegangen – nicht, solange Carlotta da war! Es war besser, die alten Männer zu ignorieren, während sie und ihre Tochter sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Laura Lee war so kränklich gewesen, daß sie die High School nie hatte abschließen können. Die arme Laura Lee, die ihr Leben damit zubrachte, streunende Katzen aufz u lesen und mit ihnen zu reden, um den Block zu gehen, sie zu suchen und zu füttern, bis die Nachbarn sich beschwerten.
Waren wir denn die mächtigen Hexen, diejenigen von uns, die mit dem sechsten Finger geboren wurden? Und Mona mit den roten Haaren?
Die Jahre waren vergangen, und das große Vermächtnis der Mayfairs war an Stella gefallen, und dann an Antha und dann an Deirdre…
Alle verloren, sie alle, die sie in den Zeiten der Schatten gelebt hatten. Sogar Stellas hell funkelndes Licht – ausgelöscht, einfach so!
»Aber es wird eine andere Zeit kommen, eine Zeit der Schlachten und der Katastrophe.« Das hatte Julien ihr an dem Abend versprochen, als sie das letzte Mal wirklich mit ihm g e redet hatte. »Das ist der Sinn deines Gedichtes, Evelyn. Ich werde versuchen, hier zu sein.«
Die Musik wimmerte und stampfte. Er spielte sie immer.
»Weißt du, diene, ich habe ein Geheimnis, was ihn und die Musik betrifft. Er kann uns nicht so gut hören, wenn wir Musik machen. Es ist ein altes Geheimnis; meine Grandmere Marie Claudette hat es mir selbst anvertraut. Der böse Dämon wird angezogen von der Musik. Musik kann ihn ablenken. Er kann Musik noch hören, wenn er sonst nichts hören kann. Rhyt h men und Reime können ihn auch bannen. Alle Geister finden dergleichen unwiderstehlich, genauso wie sichtbare Muster. In ihrer Düsternis sehnen sie sich nach Ordnung, nach Symmetrie. Ich benutze die Musik, um ihn anzulocken und zu verwirren. Mary Beth weiß es auch. Weshalb, glaubst du, steht ein Musikkasten in jedem Zimmer? Warum, glaubst du, liebt sie ihre vielen Victrolas? Sie geben ihr Ruhe vor diesem Wesen, die sie ab und zu haben möchte wie jeder andere auch.
Und wenn ich nicht mehr bin, mein Kind, dann spiele das Vi c trola. Spiele es und denke an mich. Vielleicht kann ich es h ö ren, vielleicht kann ich zu dir kommen, vielleicht wird der Walzer die Dunkelheit durchdringen und mich wieder zu mir und zu dir bringen.«
»Julien, warum nennst du ihn böse? Daheim sagen sie immer, der Geist in diesem Hause hört auf deinen Befehl. Tobias hat es zu Walker gesagt. Lasher ist der magische Sklave von Jul i en und Mary Beth, haben sie gesagt, und er gewährt ihnen jeden Wunsch.«
Er hatte den Kopf geschüttelt und im Schütze eines neapolit a nischen Liedes gesagt: »Er ist böse; denke an meine Worte. Und seine Bosheit ist von der schlimmsten Sorte, aber er weiß es selbst nicht. Sag das Gedicht noch einmal auf. Erzähle es mir.«
Evelyn war es ein Greuel gewesen, das Gedicht aufzusagen. Das Gedicht erklang aus ihr, als wäre sie das Victrola und als habe sie jemand mit einer unsichtbaren Nadel berührt; die Worte kamen aus ihrem Mund, und sie wußte nicht, was die Worte bedeuteten. Worte, die Julien angst machten und vo r her schon seine Nichte Carlotta erschreckt hatten, Worte, die Julien wieder und wieder sprach, als die Monate vergingen.
Wie kraftvoll er ausgesehen hatte, die weißen Locken immer noch sehr dicht, die klugen Augen klar auf sie gerichtet. Er hatte nie unter der Blindheit und Taubheit des Alters leiden müssen, nicht wahr? Waren es die vielen Liebesgeschichten, die ihn jung gehalten hatten? Vielleicht. Er hatte seine zarte, trockene Hand auf die ihre gelegt und sie auf die Wange g e küsst. »Bald werde ich sterben wie jeder andere, und ich kann nichts dagegen tun.«
Oh, dieses kostbare Jahr, diese kostbaren paar Monate.
Und daß er dann zu ihr gekommen war, eine Vision, ganz jung… Daß sie seine Stimme gehört hatte bis herauf zu
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