Tanz der Hexen
ihrem Fenster!
Später kamen dann kleinere Visionen, so schnell wie explodierende Blitzlichtbirnen. Julien in einer vorüberfahrenden Straßenbahn. Julien in einem Auto. Julien auf dem Friedhof bei Anthas Beerdigung. Vielleicht alles Einbildung. Ja, sie hä t te schwören können, daß sie ihn auch auf Stellas Beerdigung gesehen hatte, eine kostbare Sekunde lang.
Hatte sie deshalb so mit Carlotta gesprochen, sie rundheraus beschuldigt, als die nebeneinander zwischen den Gräbern gestanden hatten?
»Es war die Musik, nicht wahr?« hatte Evelyn gesagt; zitternd hatte sie ihre verbale Attacke begonnen, angefeuert von Haß und Schmerz. »Du brauchtest die Musik. Als die Kapelle laut und wild spielte, da konnte Lionel zu Stella gehen und sie e r schießen. Und ›der Mann‹ hat es nicht gemerkt, nicht wahr? Du hast die Musik benutzt, um ›den Mann‹ abzulenken. Du kanntest den Trick. Julien hat ihn mir erzählt. Du hast ›den Mann‹ mit Musik getäuscht. Du hast deine Schwester ermordet. Du warst es.«
»Hexe, geh weg von mir«, hatte Carlotta gezischt, kochend vor Wut. »Du und deinesgleichen, alle.«
»Ah, aber ich weiß es, und dein Bruder sitzt in der Zwangsjacke, ja, aber du bist die Mörderin! Du hast ihn angestiftet. Du hast die Musik benutzt, du kanntest den Trick.«
Es hatte ihre ganze Kraft erfordert, diese Worte auszusprechen, aber ihre Liebe zu Stella hatte es verlangt. Stella. Evelyn hatte allein in der kleinen Wohnung im French Quarter im Bett gelegen; sie hatte Stellas Kleid in den Händen gehalten und hineingeweint. Und die Perlen – niemals würden sie Stellas Perlen finden.
»Ich würde sie dir geben, mein Entchen«, hatte Stella gesagt und die Perlen gemeint, »weißt du, ich würde es wirklich tun, aber dann macht Carlotta einen Höllentanz! Sie hat gedroht, mich zu bestrafen, mein Entchen; ich darf keine Erbstücke und sonstige Dinge weggeben! Wenn sie je von dem Victrola e r fährt – das Julien dir gegeben hat -, dann läßt sie es dir we g nehmen. Genaue Inventurlisten führt sie. Das sollte sie in der Hölle machen: darauf achten, daß niemand aus Versehen ins Fegefeuer rausgelassen wird oder etwa nicht seinen fairen Anteil an Feuer und Schwefel zu schlucken kriegt. Sie ist ein Biest. Kann sein, daß du mich so bald nicht wiedersiehst, mein liebes Entchen; es kann sein, daß ich mit diesem Talamasca-Menschen aus England durchbrenne.«
»Dabei kann nichts Gutes herauskommen!« hatte Evelyn gerufen. »Ich habe Angst.«
»Du mußt heute abend tanzen. Amüsier dich. Komm. Du darfst meine Perlen nicht tragen, wenn du nicht tanzt.«
Und nie wieder hatten sie miteinander gesprochen, sie und Stella. Oh, der Anblick des Blutes, das auf den gebohnerten Boden quoll.
Nun ja, hatte Evelyn später auf Carlottas Frage geantwortet, sie habe die Perlen allerdings, aber sie habe sie an diesem Abend zu Hause gelassen. Und danach beantwortete sie nie wieder eine Frage nach den Perlen.
Im Laufe der Jahrzehnte fragten andere. Sogar Lauren kam irgendwann damit an. »Es waren unbezahlbare Perlen. Du erinnerst dich wirklich nicht, was aus ihnen geworden ist?«
Und der junge Ryan, den Gifford liebte und den sie liebte, war irgendwann gezwungen gewesen, das unangenehme Thema zur Sprache zu bringen.
»Uralte Evelyn, Tante Carlotta ist nicht bereit, die Frage nach den Perlen fallenzulassen.« Zumindest da hatte Gifford den Mund gehalten, Gottlob, und dabei hatte sie so elend ausg e sehen. Nie hätte sie Gifford die Perlen zeigen dürfen. Aber Gifford hatte kein Wort gesagt.
Tja, wenn Gifford nicht gewesen wäre, dann wären die unbezahlbaren Perlen für alle Zeit in der Wand geblieben. Gifford, Gifford, Gifford, Miss Heiligenschein, Miss Naseweis! Aber jetzt waren sie wieder in der Wand, nicht wahr? Das war das Schöne. Sie waren jetzt wieder in der Wand.
Um so mehr Grund, geradeaus zu gehen, aufrecht zu gehen, vorsichtig zu gehen. Die Perlen sind auch da oben, und sicher muß Mona sie bekommen, denn Rowan Mayfair ist fort und kommt vielleicht nie wieder.
Mona war ihr Schatz, und jetzt, da Gifford fort war, ja, da wü r de sie mit Mona sprechen, und sie könnten allein zusammensitzen und das Victrola spielen lassen. Und die Perlen. Ja, die würde sie Mona um den Hals legen.
Wieder diese böse, furchtbare Erleichterung. Nie wieder Gi f ford mit dem hageren Gesicht und den angstvollen Augen, wie sie mit gedämpfter Stimme von Gewissen und Recht redete.
War die Avenue noch die Avenue? Sicher mußte sie
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