Tanz der Hexen
doch bald zur Ecke Washington kommen; aber es gab so viele neue Gebäude hier, daß sie die Orientierung verloren hatte.
Das Leben war so laut geworden. Das Leben war unkultiviert. Müllwagen verschlangen brüllend die Abfälle. Lastzüge donnerten durch die Straßen. Den Bananenmann gab es nicht mehr, den Eismann gab es nicht mehr. Die Schornsteinfeger kamen nicht mehr. Die alte Frau mit den Brombeeren kam nicht mehr. Laura Lee war unter Schmerzen gestorben. Dei r dre war wahnsinnig geworden, und ihre Tochter Rowan war nur einen Tag zu spät gekommen, um ihre Mutter noch lebend zu sehen, und am Weihnachtstag war etwas Grauenhaftes geschehen, und niemand wollte darüber sprechen. Und R o wan Mayfair war verschwunden.
Wenn Rowan Mayfair und ihr neuer Mann nun das Victrola und die Schallplatten gefunden hatten? Aber Gifford hatte gesagt, das hatten sie nicht. Und Gifford war auf der Hut. Gifford hätte ihnen die Sachen wieder weggenommen, wenn es nötig gewesen wäre.
Und Giffords Versteck hatte Stella gehört, und Gifford hatte es nur gekannt, weil Evelyn es ihr gezeigt hatte. Dummheit war es gewesen, je ein Lied oder eine Geschichte oder einen Vers an Gifford oder Alicia zu verschwenden. Sie waren bloße Gli e der in einer Kette, aber das Juwel war Mona.
»Sie werden sie nicht finden, uralte Evelyn. Ich habe die Pe r len wieder in das alte Geheimversteck in der Bibliothek getan. Das Victrola auch. Der ganze Kram ist da für alle Zeit in S i cherheit.«
Gifford, die Country-Club-Mayfair, war allein in das dunkle Haus gegangen und hatte die Sachen dort versteckt. Hatte sie den Mann gesehen bei diesem Ausflug in die Dunkelheit?
»Man wird sie nie finden. Sie werden mit dem Haus verrotten«, hatte Gifford gesagt. »Du weißt es. Du hast mir das Versteck selbst gezeigt, als wir in der Bibliothek waren.«
»Du machst dich über mich lustig, du böses Kind.«
Aber sie hatte der kleinen Gifford die geheime Nische gezeigt, und zwar am Nachmittag nach Laura Lees Beerdigung. Das mußte das letzte Mal gewesen sein, daß Carlotta ihnen das Haus geöffnet hatte.
Das war 1960 gewesen. Deirdre war schon krank gewesen, und nachdem sie ihr Baby Rowan verloren hatte, war sie für lange Zeit ins Krankenhaus zurückgegangen. Cortland war gerade ein Jahr tot gewesen.
Warum war sie mitgegangen? Sie wußte es eigentlich nicht. Vielleicht, um Juliens Haus wiederzusehen. Vielleicht hatte sie auch die ganze Zeit vorgehabt, sich in die Bibliothek zu schleichen und nachzusehen, ob die Perlen noch da waren oder ob jemand sie gefunden hatte.
Und als alle andern sich versammelt hatten und untereinander von Laura Lees Leiden tuschelten, und von der armen kleinen Gifford und der armen kleinen Alicia, und von all den traurigen Dingen, die sie alle heimsuchten, da hatte Evelyn Gifford bei der Hand genommen und war mit ihr in die Bibliothek gega n gen.
»Hör auf, um deine Mutter zu weinen«, hatte Evelyn gesagt. »Laura Lee ist im Himmel. Jetzt komm her, und ich zeige dir ein geheimes Versteck. Ich zeige dir etwas Schönes. Ich habe eine Halskette für dich.«
Gifford hatte sich die Augen abgewischt. Seit dem Tode ihrer Mutter war sie irgendwie benommen gewesen, und die B e nommenheit war erst wieder von ihr gewichen, als sie Jahre später Ryan geheiratet hatte. Aber bei Gifford war immer Hof f nung gewesen. Am Nachmittag von Laura Lees Begräbnis hatte es eine Menge Hoffnung gegeben.
Wahrhaftig, Gifford hatte ein gutes Leben gehabt, das mußte man zugeben; sie hatte sich zwar unablässig Sorgen gemacht, aber sie hatte Ryans Liebe gehabt, ihre wunderbaren Kinder, und sie war beherzt genug gewesen, Mona zu lieben und sie in Ruhe zu lassen, obwohl Mona ihr Todesangst einjagte.
Tod. Gifford tot. Unmöglich. Alicia hätte es sein müssen. Alles durcheinander. Pferd durchs falsche Tor. Hat Julien das v o rausgesehen?
Es schien nur einen Augenblick her zu sein – Laura Lees B e gräbnis. Denke noch einmal an die Bibliothek – staubig, vernachlässigt. Frauen, die sich nebenan unterhalten.
Evelyn hatte die kleine Gifford zum Bücherschrank geführt und die Bücher beiseite geschoben. Dann hatte sie die lange Pe r lenschnur herausgezogen. »Die nehmen wir jetzt mit nach Hause. Ich habe sie vor dreißig Jahren hier versteckt, an dem Tag, als Stella hier im Salon ums Leben gekommen ist. Carlo t ta hat sie nie gefunden. Und das hier, das sind Bilder von Ste l la und von mir. Die nehme ich auch mit. Eines Tages werde ich diese Dinge dir und
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