Tanz der Hexen
stellte sich Gifford in ihrem hübschen roten Wollkostüm vor, mit einer weißen Bluse und einer weichen Seidenschleife am Hals. Gifford trug Handschuhe, aber nur beim Autofahren; jetzt hatte sie sie gerade angezogen, sehr behutsam, Kar a mellfarbene Lederhandschuhe. Sie sah jetzt jünger aus als Alicia, obwohl sie es nicht war. Sie achtete auf sich, pflegte sich, liebte andere Menschen.
»Ich kann dieses Jahr nicht zum Mardi Gras bleiben«, hatte sie gesagt. »Ich kann es einfach nicht.« Sie war gekommen, um ihnen zu sagen, daß sie nach Destin fahren würde.
»Na, du erwartest hoffentlich nicht, daß ich hier alle empfange!« hatte Alicia gerufen. Totale Panik. Sie hatte ihre Zeitschrift auf die Veranda fallen lassen. »Ich kann das nicht allein. Ich kann es nicht. Ich mache es auch nicht. Ich schließe das Haus ab. Ich fühle mich nicht wohl. Und die uralte Evelyn sitzt bloß immer da und sitzt und sitzt. Wo ist Patrick? Du sol l test hier bleiben und mir helfen. Warum unternimmst du nichts wegen Patrick? Weißt du nicht, daß Patrick jetzt schon morgens trinkt? Er trinkt den ganzen Vormittag. Wo ist Mona? Verdammt noch mal, Mona ist weggegangen, ohne mir etwas zu sagen. Jemand sollte Mona mal an die Leine legen! Ich brauche sie! Mach die verfluchten Fensterläden zu, ehe du gehst, ja?«
Gifford war ganz ruhig geblieben.
»Sie gehen dieses Jahr alle in die First Street, CeeCee«, hatte sie gesagt. »Du brauchst nur das zu tun, was du immer tust.«
»Oh, du bist so gemein zu mir. Bist du nur hergekommen, um mir so etwas zu sagen? Und was ist mit Michael Curry? Es heißt, er wäre Weihnachten fast gestorben; darf ich fragen, weshalb er dann am Fastnachtsdienstag eine Party gibt?« Inzwischen zitterte Alicia vor Wut und Empörung über den blanken Wahnsinn des Lebens, über die absolute Abwesenheit der Logik in allen Dingen und darüber, daß irgend jemand irgend etwas von ihr erwarten konnte. Hatte sie nicht schließlich pra k tisch Selbstmord begangen, um dafür zu sorgen, daß sie für alle Zeit von jeglicher Verantwortung befreit wurde? Wieviel Schnaps war denn dafür noch nötig?
»Dieser Michael Curry ertrinkt fast, und was macht er? Er gibt eine Party? Weiß er denn nicht, daß seine Frau verschwunden ist? Sie könnte tot sein! Was ist das für ein Mann, dieser ve r rückte Michael Curry? Und wer, zum Teufel, hat eigentlich gesagt, daß er in diesem Haus wohnen darf? Was haben sie denn mit dem Vermächtnis vor? Was ist, wenn Rowan Mayfair nie mehr zurückkommt? Fahr nur, fahr nach Destin. Was kümmert dich das alles? Laß mich hier nur allein. Es macht nichts. Geh zum Teufel!«
Vergeudete Wut, verschwendete Worte, am Thema vorbei, immer am Thema vorbei. Hatte Alicia in den letzten zwanzig Jahren etwas Aufrichtiges oder Ehrliches gesagt? Höchs t wahrscheinlich nicht.
»Sie wollen sich in der First Street treffen, CeeCee. Das ist nicht meine Idee. Ich fahre weg.« Giffords Stimme war so leise gewesen, daß Alicia sie wahrscheinlich gar nicht gehört hatte, und es waren die letzten Worte gewesen, die ihre Schwester an sie richten sollte.
Gifford.
Giffords Wagen war davongefahren, und Alicia hatte fluchend auf der Veranda gestanden, barfuß und frierend. Sie hatte die Zeitschrift mit einem Tritt zur Seite geschleudert. »Sie fährt also einfach weg. Fährt einfach weg. Ich kann es nicht gla u ben. Fährt einfach weg. Was soll ich jetzt machen?«
Die uralte Evelyn hatte kein Wort gesagt. Worte, die man an Trinker richtete, waren Worte, die man ins Wasser schrieb. Sie verschwanden in der endlosen Leere, in der der Trinker sich suhlte. Konnte es einem Geist schlimmer ergehen?
Gifford hatte es wieder und wieder versucht. Gifford war eine Mayfair durch und durch. Gifford hatte geliebt. Sich Sorgen gemacht, ja, aber geliebt.
Ein kleines Mädchen mit einem Gewissen, in der Bibliothek auf dem Boden. »Aber dürfen wir diese Perlen denn einfach nehmen?«
Allesamt dem Untergang geweiht, die ganze Generation, die Mayfair-Kinder aus der Zeit der Naturwissenschaft und der Psychologie. Besser hatte man in der Zeit der Krinolinen g e lebt, der Kutschen und der Voodoo-Zauberinnen. Unsere Zeit liegt hinter uns. Julien wußte das.
Aber Mona war nicht verdammt, oder? Sie war eine Hexe für die heutige Zeit. Mona an ihrem Computer, kaugummikauend und schneller tippend als irgend jemand sonst im Universum. »Wenn das Tippen eine olympische Disziplin wäre, würde ich sie gewinnen.« Und auf dem Monitor all die
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