Tanz der Kakerlaken
diese Steine auch nur einen Millimeter bewegt haben könnte. Trotzdem war dieser Steinkreis ein besonderer Ort, heidnisch, unchrustlich, verhext vielleicht, den nur noch wenige Knackerlaken jemals aufsuchten. Man mußte tiefes Moos durchqueren, um dorthin zu gelangen. Vor langer Zeit war diese Stätte Hinglerocks genannt worden, und Tish kannte den Namen, hatte aber nie jemanden davon sprechen hören oder hingehen sehen. Für sie war Hinglerocks ein einsamer verfallener Tempel, eine Zuflucht vor den Sorgen und Wirrnissen des Lebens und ein Ort, wo sie, wie jetzt, die Verwesterung ihrer Eltern betrauern und sich darauf vorbereiten konnte, den Ingledews gegenüber ihre Verwandtschaft zu behaupten. Weil hier außer Moos nichts wuchs, was ein Geschöpf auf Nahrungssuche hätte anlocken können, wurde sie niemals belästigt, außer auf dem Weg dorthin, wenn womöglich eine feindlich gesinnte Grille, ein Santa Fe oder Skorpion ihr begegneten oder ein dicker Regenwurm, dessen Kauderwelsch für sie ein Buch mit sieben Siegeln war.
Von Hinglerocks aus konnte Tish bis zum Parthenon sehen, eine Viertelmeile entfernt; das vor langer Zeit in einen Lebensmittelladen um – und jetzt in ein Wohnhaus zurückverwandelte Haus hob sich im Mondlicht als Silhouette ab gegen die Mulde, in die es sich schmiegte; in einem Zimmer brannte, bleich wie ein ferner Stern, das einsame Licht einer Kerosinlampe. Die unkrautbewaldete Roamin Road führte dorthin; näher als bei dem Umzug der Mädchen gestern abend war Tish dem Parthenon noch nie gekommen. Der Herr fuhr diese Straße nie mehr mit Seinem Automobil entlang, und auch zu Fuß benutzte Er sie nicht mehr, außer, um Umschläge in den Briefkasten der Frau zu stecken.
Eine Stunde oder länger wohl mochte Tish in Hinglerocks gesessen, zum Parthenon hinübergeblickt und Mut gesammelt haben. Schließlich faßte sie den Entschluß, sich wenigstens dem Haus zu nähern und dort ein wenig herumzuschnuppern. Eine weitere Stunde dauerte ihre Anreise. Als sie zu dem Unkrautwald kam, der zwischen ihr und ihrem Ziel lag, hoffte sie beinahe, die Ankunft möge ihr durch irgendein Geschöpf des Waldes erspart bleiben; im Schlund einer Spitzmaus zu vergehen schien besser, als sich den strengen Befragungen durch die Ingledews auszusetzen. Lieber würde sie einem Dachs, einem Opossum, sogar dem eigenartigen und seltenen Gürteltier begegnen, als einem Ingledew gegenüberzutreten. Dann erinnerte sie sich, daß ihr eigener lieber seliger Vater ein Ingledew gewesen war, und er hatte nichts Furchterregendes an sich gehabt. Und eigentlich war sie selbst ja eine Ingledew! Mit einem Mal wurde sie sehr befangen, und als sie den Unkrautwald betrat, unterzog sie sich einer genauen Prüfung. Waren ihre Hüften und ihre Schenkel nicht zu lang und zu dick? Alle sechs oder zumindest vier davon? Waren ihre Krabbler zu kurz geraten? War ihr Thorax gut genug entwickelt?
Bevor sie den Vorgarten des Parthenon durchquerte, hielt sie, um sich gründlich zu säubern; sie wusch jede ihrer Schnüffelruten zweimal und putzte jedes Häkchen an ihren Krabblern. Sie spürte, daß dies das wichtigste Bad war, und sie ging gründlich und sorgfältig zu Werke. Sie ließ ihre Schnüffelruten langsam über ihren ganzen Leib gleiten und prüfte das Ergebnis. Stellte sie nicht einen ganz schwachen Duft von Pheromonen fest? Wenn ja, dann rührte es von der Aufregung, nicht von einer Lust her.
Sie durchquerte den Garten. Zwischen den spärlichen Grasflecken war die glatte Erde mit Denkmälern übersät: hier ein Kupferpfennig, dort ein Fetzen Alufolie; hier eine Schraube samt Unterlegscheibe, dort der Ring von einer Getränkedose; hier eine Glasperle, dort ein Perlmuttknopf. Tish blieb stehen, um das Spielzeug eines Menschenkindes zu betrachten, eine runde Glasmurmel, von farbigen Streifen durchzogen, durchsichtig, wundervoll. Sie verglich diesen Garten des Parthenon mit dem von Carlott, der übersät war mit Kugellagern, verrosteten Splinten, ölverschmierten Kupplungen, verbogenen Ventilen, alten Zündkerzen, all dem vielgestaltigen Schrott alter Automobile. Tish hätte die ganze Nacht damit zubringen können, den wunderbaren Garten des Parthenon zu erkunden, aber vor ihr lag nun die Veranda des Parthenon selbst.
Steinpfeiler stützten die Veranda, und Tish erklomm den neben dem Fenster, dessen Licht sie von weitem gesehen hatte. Sie kletterte an der Holzwand zum Sims dieses Fensters empor und blickte durch das Fliegengitter. Dort, in einem
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