Tanz der Kakerlaken
Knackerlaken überall?«
»Ich glaube schon, Jubal.«
»Müssen die überall nach Westen gehen, so wie wir?«
»Alles geht nach Westen, früher oder später. Sogar diese ganzen Sterne, ein jeder einzelne, fangen an zu flackern und werden dunkel und kalt und gehen nach Westen.«
Jubal wurde sehr nachdenklich. »Und wird unsere Welt irgendwann auch einmal kalt?«
Tish wurde klar, daß Jubal zu jung war, um sich an den letzten Winter zu erinnern. Sie selbst war während der schlimmen Phase noch zu jung gewesen, um sich seiner schneidenden Strenge bewußt zu werden. »Ja«, sagte sie, »es wird sehr kalt werden.«
»Wenn wir in den Parthenon ziehen, haben wir es dann immer warm?«
»Na hör mal, Jubal, wie kommst du auf die Idee, daß wir jemals in den Parthenon ziehen könnten?«
»Wenn du einen Junker Ingledew heiraten würdest, dann könnten wir's!«
Tish konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Ich werde wohl kaum einen Junker Ingledew heiraten!« sagte sie. »Wie kommst du denn darauf?«
»Hat Mama gesagt.«
»Ach ja? Was hat Mama denn noch alles gesagt?«
»Sie hat gesagt, wenn ihr und Daddy jemals was zustößt, dann sollst du daran denken, daß die Dingletoons in Wirklichkeit Ingledews sind, und du solltest hingehen und die Junker besuchen und die Verwandtschaft geltend machen.«
»Die Verwandtschaft geltend machen ist das eine«, erklärte Tish, »einen von ihnen zu heiraten ist eine ganz andere Geschichte. Außerdem, wenn wir mit ihnen verwandt sind, wäre es Inzest, einen von ihnen zu heiraten. Und Bruder Tichborne sagt, es gibt nichts Schlimmeres als Inzest.«
»Und wann machst du die Verwandtschaft geltend?« wollte er wissen.
Die Aussicht verwirrte sie, machte sie sprachlos. Aus den Wäldern ringsumher kamen die Anfangstakte der Purpursinfonie, aber sie mißdeutete diese Klänge als eine Melodie, die in ihrem eigenen Herzen spielte: Irgend jemand hatte ihr erzählt, wer die Purpursinfonie hört, sehnt sich nach etwas. Die unteren Härchen ihrer Schnüffelruten prickelten von dem Geruch der Sehnsucht, und obwohl sie merkte, daß der Geruch ihr selbst entströmte, brachte es doch Glück. Würde sie Glück haben, wenn sie versuchte, ihre Verwandtschaft bei den Ingledews zu behaupten?
»Wann wirst du die Verwandtschaft geltend machen?« störte Jubal sie aus ihrer Träumerei auf, und Tish fand sich zu Hause in dem verrotteten Holzklotz wieder, umringt von ihren Geschwistern, die alle Jubals Frage aufgriffen und sie damit bestürmten: »Wann wirst du die Verwandtschaft geltend machen? Verwandtschaft geltend machen? Verwandtschaft geltend machen?«
Tish fühlte sich plötzlich überwältigt von ihrer Verantwortung, ihrer Verpflichtung und der Last des Wissens, daß sie Ingledews waren. Warum war dieses Wissen so jäh über sie hereingebrochen, fast wie der Vorbote einer Tragödie? Hätte ihr Vater nicht, genau in der Nacht seiner Verwesterung, entdeckt, daß er ein Ingledew war, hätten seine Kinder sich den Wechselfällen ihres Schicksals mit ebensoviel Resignation und soviel Gleichmut der Realität ergeben wie alle Knackerlaken. Sie wären damit zufrieden gewesen, weiterhin Dingletoons zu sein, irgendwo und irgendwie hätte sich Tishs Weg vielleicht wieder mit dem von Archy Tichborne gekreuzt, dem sie auf der Spielparty nur flüchtig begegnet war. »Wenn ich denke«, sagte sie verdrossen zu sich selbst, »daß ich gestern nacht noch getanzt und gelacht habe.« Nun, als älteste Überlebende der Dingletoon-Kinder mußte sie den Haushalt übernehmen … oder einen Weg finden, in den Parthenon zu ziehen.
»Besser ist es, du machst heute nacht noch die Verwandtschaft geltend«, drängte Jubal. »Pack die Gelegenheit bei der Schnüffelrute, wie Mama immer zu sagen pflegte. Der erste Wurm narrt den Vogel.«
»Ach, laß mich doch«, rief Tish klagend und floh aus dem Haus. Sie erklomm den Großen Fels im Norden von Carlott, einen Gesteinsblock, fast so hoch wie das Heilige Haus selbst, welches in seinem Schatten lag. Oben auf dem Großen Fels war eine kleine ebene Stelle, die der Mann selbst nie aufgesucht hatte und auch kaum erreichen konnte; hier befanden sich kleinere Felsen in Form von Säulen, einige flacher als andere, zum Teil übereinander gelegt und im Kreis angeordnet. Der Legende nach hatten mächtige Knackerlaken Jahre vor der Zeit des Joshua Chrust die Felsen in diesem Kreis aufgestellt, obwohl unvorstellbar war, wie irgendeine Knackerlake, und auch eine Mannschaft kräftiger Ingledews,
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