Tanz der Kakerlaken
ertrunkene Säugetier auf diesem Uferstück war die Große Weiße Maus. Obwohl sie sie nie zuvor gesehen hatte, erkannte Tish sie sofort, weil sie so viele Geschichten über sie gehört und ihren Brüdern und Schwestern erzählt hatte, so daß bei dem Anblick ihr gedämpfter Ausruf »Die Große Weiße Maus« dreißig von ihnen in die hintersten Winkel ihrer Arche scheuchte.
»Sieht mir ziemlich verwestert aus«, erklärte Jubal, der sich als einziger außer Tish nicht versteckt hatte.
»Du willst doch nicht etwa rüber und es rausfinden, oder?« fragte sie.
»Ich? Ich bin doch nicht verrückt. Warten wir einfach ab und sehen, ob er sich bewegt.«
Lange Zeit beobachteten Tish und Jubal den Großen Weißen Mäuserich (sie hatten immer mehr den Eindruck, daß es sich um ein Männchen handelte). Er lag auf der Seite, einen Krabbler in sonderbarem Winkel von sich gekrümmt, die Augen fest geschlossen, den Albinopelz völlig vollgesogen und schmierig und verfilzt.
»Kannst du irgendwas Westwärtiges an ihm riechen?« fragte Tish Jubal.
Er schwenkte langsam seine Schnüffelruten herum, stellte ihren Empfang auf den Mäuserich ein. »Bloß all die anderen verwesterten Viecher. Puh.«
Sie selbst konnte die Westwärtigkeit eines Säugetieres mit ihren Schnüffelruten nicht ausmachen, aber vielleicht war es noch zu früh; vielleicht hatte das Herz des Großen Weißen Mäuserichs erst während der letzten Stunde zu schlagen aufgehört und der Leichnam noch nicht angefangen zu verwesen. Tish trat vom Eingang der Arche hinunter auf den Sand und machte ein paar Schritte auf den Mäuserich zu
»Was machst du da?!« rief Jubal. »Geh nicht näher an das Ding ran!«
»Er sieht schlimm verletzt aus«, bemerkte Tish.
»Hoffst du denn nicht, daß er westlich verletzt ist?« sagte Jubal. »Ich jedenfalls hoffe, er ist so westlich verletzt, wie's nur geht! Jetzt komm hierher zurück!«
Doch bis ein erneuter Regenfall sie in den Klotz zurücktrieb, blieb Tish stehen und starrte den Großen Weißen Mäuserich an, und sogar von der Geborgenheit des Klotzes aus beobachtete sie ihn weiter, denn dem Regen zuzusehen, hatte sie seit langem satt. Schließlich wurde ihre Wachsamkeit belohnt.
Neben ihr fuhr Jubal heftig zusammen und rief aus: »Hast du das gesehen?! Seine Zunge ist ein Stückchen rausgekommen!«
Tatsächlich hatte die Zunge des Mäuserichs, so rosa wie das Innere seiner Ohren und die Ränder seiner geschlossenen Augen, kurz aus seinem Mundwinkel hervorgelugt. Dann zuckte, noch unverkennbarer, ganz leicht die Spitze des langen schuppigen Schwanzes.
»Er ist noch im Osten!« sagte Tish und bemerkte, daß sie flüsterte, als könnte der Mäuserich sie hören.
Dann hörten sie ein Geräusch, das von dem Mäuserich kam: ein hohes nasales Winseln, eine Art quieksendes Summen, das gleichzeitig aus der Kehle, dem Kehlkopf und der Nasenhöhle kam. Der eine Laut dieses Summens wurde eine Tonlage höher und ging dann in eine leierige unmelodische Melodie über, die durch all das Wasser, das das Tier in sich aufgesogen hatte, etwas flüssig und gurgelnd klang.
Der Große Weiße Mäuserich öffnete ein Auge einen Spalt weit und versuchte offenbar, seinen Blick auf Tish und Jubal zu konzentrieren. Das Auge war ganz rosa und am Rand boshaft nach oben gebogen wie das einer Schlange. Der Mäuserich summte schwach ein Wort, das sich anhörte wie »Mo-ries?« Tish und Jubal sahen sich an, murmelten das Wort vor sich hin und warfen sich wieder einen fragenden Blick zu.
Dann brummte die Maus: »Mo-ries, hassen Ast gesehn?«
»Was?« fragte Tish laut, obwohl Jubal hektisch versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. »Was hast du gesagt?«
Das Auge versuchte, sie anzusehen. Der große Kopf versuchte, aus dem Sand hochzukommen. Die Stimme summte leierig: »Hassen Ast gesehn, wo mich gekloppt hat?« Dann stammelte die Stimme noch einmal »Mo-ries?«, und der Kopf hob sich, fiel dann wieder herunter, und die Stimme stöhnte: »Du bis nich Mo-ries. Wer bisse?«
Tish verstand diese Frage, und sie antwortete: »Laetitia Dingletoon.«
»Noch sone dösige Kakerlake«, brummte der Mäuserich. »Wos Mo-ries?«
»Mo-ries wer?«
»Mein Bruda«, brummte der Mäuserich. Dann hörte der Regen auf. Die Maus brummte: »Komma Stückchen näha, du kleen Pissel. Ich kann dich nich sehn.«
Obwohl Jubal sie zurückhalten wollte, schüttelte Tish ihn ab und näherte sich dem Mäuserich, aber nicht so nahe, daß er sie erreichen konnte, vorausgesetzt, er war
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