Tanz der Kakerlaken
erzählt«, erklärte Jubal ihnen aufgeregt, »und jetzt erzählt er gerade die verrückteste Geschichte, die ihr je gehört habt!« Einer nach dem anderen schlichen sich die Geschwister in Hörweite des Großen Weißen Mäuserichs und lauschten seiner Geschichte.
Geboren und aufgewachsen war er in einer großen Stadt, weit weg im Osten – und »Osten« bedeutete für ihn nicht »am Leben«, sondern bloß eine Richtung, die er »Dalang« nannte. Dalang im Osten war eine Stadt mit zig Millionen Menschen, die in Häusern lebten, die aufeinandergestapelt waren, bis sie in den Himmel reichten. Hämmann war in einem Käfig hoch oben in einem dieser fabelhaften Türme von Dalang im Osten geboren worden, und zusammen mit seinen Brüdern und Schwestern hatte er unter dem Namen Riley wohlgenährt und gut versorgt dahingelebt, aber nachdem Hämmann zu seiner vollen Größe herangewachsen war, wurde er täglich bestimmten Erniedrigungen unterworfen, die er seinen Zuhörern eine nach der anderen auflistete, um jede seiner Schilderungen mit der Frage »Wie finzat?« abzuschließen. Er wurde mit Nadeln gestochen; Menschen nahmen ihn, steckten ihm Nadeln in den Hintern und spritzten irgendwelche Flüssigkeiten in ihn hinein. »Wie finzat?« Er wurde in Kästen mit Labyrinthen gesteckt, und dann mußte er den Weg hinaus finden. »Wie finzat?«
Tish war sich nicht sicher, was sie auf diese immer wiederkehrende Frage antworten sollte. Sie fand es gut, daß und wie Hämmann seine Geschichte erzählte, aber daß ihm alle diese sonderbaren Dinge angetan worden waren, fand sie nicht gut. Also antwortete sie jedesmal, wenn er fragte: »Wie finzat?«, mit: »Schlimm find ich das.«
Schließlich heckte Hämmann seine Flucht vor den Menschen aus, die solche verrückten Sachen mit ihm anstellten. Es gab da einen Mann, der jeden Tag eine flache Schachtel, die »Aktenkoffer« genannt wurde, in Hämmanns Raum mitbrachte. Dieser Mann, dessen Name Hämmann zufolge So N. Fuzzi war, ließ den Aktenkoffer manchmal offenstehen, und eines Tages sah Hämmann seine Chance gekommen, als So N. Fuzzi ihm den Rücken zuwandte: Er fand den Weg aus dem Labyrinth, in das er gesperrt war, und kroch in einen Stapel Papier in So N. Fuzzis Aktenkoffer. Später machte So N. Fuzzi den Aktenkoffer zu, der dann mehrere Tage lang geschlossen blieb. Hämmann spürte, wie er getragen wurde und dann geflogen und von neuem getragen und dann weiter geflogen, beinahe schwerelos im betäubenden Lärm großer Maschinen, um dann aufs neue getragen zu werden, bis der Aktenkoffer schließlich auf einer Tischplatte geöffnet wurde und Hämmann zum Vorschein kam und sich von vielen Menschen umringt sah, darunter So N. Fuzzi, der ausrief: »Was zum Teufel?!«
Die Menschen versuchten, Hämmann zu packen, aber er sprang vom Tisch herunter auf den Boden und flüchtete durch eine Tür auf einen langen Korridor, dann ein paar Stufen hinunter bis zu einer Straße, wo viele vierrädrige Fahrzeuge vorbeiflitzten. Eines von ihnen hielt am Bordstein an. Seine Hintertür öffnete sich, und ein Mensch stieg aus, und Hämmann sprang hinein. Er versteckte sich unter einem Sitz und fuhr zwei Nächte und einen Tag lang, bis das Fahrzeug stehenblieb, und er sprang hinaus und fand sich auf der unbefestigten Straße wieder, die nach Stay More führte, dem merkwürdigsten Land, das er sich nicht ausdenken könnte.
Seit über einem Jahr hatte Hämmann jetzt versucht, sich an das Leben in den Wäldern und Feldern von Stay More anzupassen; er war jeder Art von Kreaturen begegnet, zahllose Male haarscharf dem Westen entronnen und hatte genug Abenteuer erlebt, um seinen Zuhörern einen ganzen Monat lang zu erzählen. Aber der Himmel hellte sich jetzt im Osten, Dalang, und bald würde die Sonne aufgehen, und Hämmann beabsichtigte, ein bißchen Schlaf nachzuholen.
Tish gähnte und spürte, daß es auch für sie und ihre Geschwister Zeit zum Schlafengehen war; und noch etwas wurde ihr bewußt – der Regen hatte aufgehört, für immer oder zumindest für lange, lange Zeit. Aber bevor sie daran denken konnte, mit einem Nagetier, das Insekten aß, im selben Klotz zu schlafen, mußte sie ihm eine Frage stellen. Sie erinnerte sich an all die Geschichten über Doc Swains feindselige Begegnungen mit der Großen Weißen Maus, und sie nahm an, daß es sich dabei um Hämmann gehandelt hatte.
»Hast du denn nie probiert, eine Knackerlake zu essen?« fragte sie Hämmann.
»Jee, einmal vielleicht«, gestand er
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