Tanz der Sinne
im Ballsaal von Blackwell Abbey. Ganz offensichtlich war der Ball ein Treffpunkt für die gesamte Nachbarschaft.
Trotz der spätherbstlichen Frische des Abends traten immer wieder erhitzte Paare auf die Terrasse hinaus, um sich vom Tanzen zu erholen, und auch aus anderen, privateren Gründen. Alle trugen Halbmasken und Dominos.
Die Masken verliehen ihren Trägern ein berauschendes Gefühl von Anonymität, und die scherzhaften Bemerkungen, die durch die Luft flogen, prickelten vor erregter Zweideutigkeit. Die meisten Gäste gingen nach ein paar Minuten wieder hinein, aber einige heißblütigere gingen von der Terrasse in den schattigen Garten. Kit hoffte, daß das Vergnügen das Risiko einer Lungenentzündung wert war.
Nach ein paar Stunden, als Champagner und Musik ihre Wirkung auf die Gäste taten, schlüpfte sie unter ihrer Wolldecke hervor und ließ sie auf den Boden des Pavillons fallen. Jeder, der sie fand, würde annehmen, daß sie von einem heimlichen Paar benutzt worden war.
Sie schüttelte die Falten ihres mitternachtsblauen Dominos aus und prüfte den Sitz ihrer Maske.
Dann konzentrierte sie sich auf die Person, die sie heute abend verkörperte – selbstbewußt, erfahren, schamlos. Dann ging sie durch den Garten auf die Terrasse zu. Ihr seidener Domino flatterte in der leichten Brise.
Sie wußte, daß sie wie jeder andere weibliche Gast aussah. Trotzdem fühlte sie sich, als sie den Ballsaal betrat, wie Daniel, der in die Löwengrube eindringt. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und bewegte lässig ihren Spitzenfächer vor ihrem Gesicht, um in seinem Schutz ihre Umgebung zu übersehen.
Alles war wie erwartet: Hitze und Schweiß, Stimmengewirr und Musik, eine unaufhörliche Parade von wirbelnder Seide. Schwarz war die häufigste Farbe unter den Dominos, aber es gab genug andere Farben, um die ganze Palette des Regenbogens zu beschwören. Die Mitte des Raumes wurde von tanzenden Paaren
eingenommen, während andere Gäste am Rand sich unterhielten und miteinander flirteten. In einem anschließenden Salon wurden
Erfrischungen gereicht, und irgendwo gab es sicher ein Spielzimmer.
Zum Glück hatte ihr Erscheinen keine besondere Aufmerksamkeit erregt. Sie suchte den Raum nach Lord Strathmore ab, der sicher hier sein würde. Es war nicht schwer, ihn auszumachen, seine Größe und sein blondes Haupt waren zu auffallend, um von einem Cape und einer Maske verdeckt zu werden. Er tanzte mit einer Frau, deren aufgeschlagener Domino ein
aufsehenerregendes, rotes Ballkleid und eine noch aufsehenerregendere Figur enthüllte.
Genau die Sorte, der kein Mann widerstehen konnte, dachte Kit bitter. Des Grafen Domino, Maske und exquisit geschnittene Abendkleidung waren schwarz, nur das weiße Hemd und seine eigene Hellhäutigkeit stachen davon ab. Ein perfektes Porträt von Lucifer auf der Pirsch.
Sobald sie ihn identifiziert hatte, drehte Kit sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Sie hatte sich große Mühe mit ihrem heutigen Aussehen gegeben. Er hatte sie noch nie so gesehen. Ihre Größe konnte sie nicht verbergen, aber sie hatte Kieselsteine in ihre Ziegeniederschuhe getan, um Gang und Haltung zu verändern. Ihr Haar war weich und aschblond, ihr tiefdekolletiertes, eisblaues Gewand lag wie angegegossen an einer wohlgeformten, nur minimal gepolsterten Figur.
Sie hatte sich für Blau entschieden, weil die Farbe einen blauen Schimmer in ihre grauen Augen brachte. Die Schminke unter der Maske veränderte die Form ihres Mundes und ihrer Wangen. Außerdem hatte sie sich ein paar Altersfalten in die Mundwinkel gemalt und sich dick gepudert, als versuche sie, sie zu verbergen.
Der Effekt war der einer reifen Frau, die versuchte, fünfzehn Jahre jünger zu wirken.
Selbst Strathmore würde sich täuschen lassen.
Trotzdem wollte sie kein Risiko eingehen.
Roderick Harford ausfindig zu machen, war schwieriger. Seine Erscheinung war weniger auffallend als Lord Strathmores. Während sie sich auf der Suche nach ihm durch die Menge drängte, sprach ein behäbiger Mann sie an: »Göttin der Nacht, tanzen Sie mit mir?«
Eine Ablehnung hätte unwillkommene Aufmerksamkeit erregt, daher nahm sie an. Der nächste Tanz war eine Polka, und sie tanzte bis zur Erschöpfung. Am Ende bat ihr heftig keuchender Partner sie, sie in den Erfrischungsraum zu begleiten. Sie tat es, entschlüpfte aber nach dem ersten Glas Champagner.
Sie tanzte mit einem anderen Mann, der aussah, als könne er Roderick Harford sein.
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