Tanz ins große Glueck
aufwachte. Sie hatte falsch gehandelt.
Sie war bestraft worden. Niemand, den sie kannte, konnte auf eine so lässige Art und Weise grausamer sein als Nikolai Dawidow. Entschlossen glitt sie vom Bett und zog die Jalousie hoch. Sie entschied, nicht mehr an die Ereignisse vom Vormittag zu denken.
"Wir können nicht den ganzen Tag im Dunkeln liegen", sagte sie zu Nijinsky, ließ sich wieder zurück auf das Bett fallen und zerzauste sein Fell. Der Kater entschied, dass es besser wäre, ihr zu vergeben, und stupste mit dem Kopf gegen ihre Hand. Diese Geste brachte ihr wiederum Nick in Erinnerung.
"Warum magst du ihn so sehr?" wollte sie von Nijinsky wissen, der sie aus bernsteinfarbenen Augen betrachtete. "Was ist an ihm, das dich anzieht?" Gedankenverloren kraulte sie ihn am Hals und starrte dabei vor sich hin. "Ist es die Stimme, sein musikalischer, ansprechender Akzent? Oder ist es die Art, wie er sich bewegt, mit solch lässiger und doch kontrollierter Grazie?
Oder wie er lächelt, so als ob nicht nur sein Mund, sondern sein ganzes Gesicht daran beteiligt wäre? Oder ist es, wie er dich berührt, mit sicheren Händen und so bewusst?"
Ruth musste unwillkürlich an den vergangenen Abend
denken, als Nick sie, nackt wie sie war, in den Armen gehalten hatte. Es war das erste Mal nach dem impulsiven, erregenden Kuss, dass sie sich erlaubte, daran zu denken. Nachdem Nick gegangen war, hatte sie sich rasch angezogen und war mit Donald zu der Party gehetzt. Sie hatte sich keine Gelegenheit zum Nachdenken gegeben. Sie war dann übermüdet nach Hause gekommen und hatte den ganzen Tag gegen die Erschöpfung angekämpft. Jetzt war sie ausgeruht, ihr Kopf war klar, und sie konnte sich mit dem Thema Nick Dawidow befassen.
Ruth hatte Verlangen in seinen Augen gesehen. Sie legte sich mit angezogenen Knien auf die Seite und schob die Hand unter ihre Wange. Nick hatte sie begehrt.
Sehnsucht. Ruth sann über das Wort nach. War es das, was sie in seinen Augen gesehen hatte? Dieser Gedanke war schön, erwärmte sie. Und dann, wie ein Schwall eiskalten Wassers, erinnerte sie sich an seinen Blick an diesem Vormittag. Keine Sehnsucht, kein Zorn, nicht einmal Missbilligung. Einfach nichts.
Es tat noch immer weh, daran zu denken, wie Nick sie weggeschickt hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er ihr die Rolle der Solotänzerin abgenommen habe. Aber ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass eine schlechte Probe nicht das Ende der Welt bedeute, und ein Kuss - so hielt sie sich vor noch lange kein Anfang von was auch immer sei.
Ihr Blick fiel auf ein Poster, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Ihr Onkel hatte ihr das Bild vor über zehn Jahren geschenkt. Lindsay und Nick waren damals in einer neuen Produktion von Romeo und Julia aufgetreten. Ohne groß zu überlegen nahm Ruth den Hörer vom Telefon und wählte.
"Hallo." Die Stimme klang warm und klar.
"Lindsay."
"Ruth!" Lindsay war überrascht. "Ich habe deinen Anruf nicht vor dem Wochenende erwartet", sagte sie in liebevollem Ton. "Hast du Justins Bild bekommen?"
"Ja." Ruth lächelte bei dem Gedanken an die abstrakte Buntstiftmalerei ihres vierjährigen Cousins, die Lindsay ihr geschickt hatte. "Es ist wunderschön."
"Natürlich. Es ist ein Selbstporträt." Lindsay lachte ihr warmes, ansteckendes Lachen. "Du hast Seth verpasst, fürchte ich. Er ist gerade in die Stadt gefahren."
"Das macht nichts." Ruth blickte wieder zum Poster hin. "Ich wollte eigentlich sowieso mit dir reden."
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war nur sehr kurz, aber Ruth fühlte heraus, dass Lindsay schnell begriffen hatte. "Ärger bei den Proben heute?"
Ruth lachte. Sie zog die Beine an. "Richtig. Wie wusstest du das?"
"Nichts macht einen Tänzer unglücklicher."
"Jetzt fühle ich mich ganz schön albern." Ruth raffte mit der Hand ihr Haar zusammen und warf es auf den Rücken.
"Das musst du nicht. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Hat Nick dich angeschrien?" Lindsay schien mehr belustigt zu sein, als Mitleid zu haben. Das allein war schon Trost genug.
"Nein." Ruth blickte auf das Blümchenmuster der Tagesdecke und fuhr mit dem Daumennagel die Linien einer der Blumen nach. "Es wäre so viel einfacher, wenn er mich angeschrien hätte. Er hat mir gesagt, dass ich nach Hause gehen soll."
"Und dir war, als ob dich jemand mit einem Faustschlag niedergeschmettert hätte, stimmt's?" ,
Ruth lächelte. "Ich wusste, dass du verstehen würdest. Was die Sache aber noch schlimmer macht, ist,
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