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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mich wenigstens aus Höflichkeit fragen können. Auf einmal fühlte ich mich entsetzlich alt und verlottert. Na ja, was soll’s, sagte ich mir, ließ mich in den Rücksitz sinken und schloss die Augen. Ich erinnerte mich an frühere Zeiten. Als ich in ihrem Alter war. Ich habe damals ebenfalls Rockmusik gehört und Platten gesammelt. Es waren 45er-Singles. Ray Charles’ Hit The Road, Jack, Ricky Nelsons Travelin’ Man, Brenda Lees All Alone Am I. Ich besaß um die hundert Scheiben. Die spielte ich tagein, tagaus, und deshalb kannte ich fast alle Texte so gut wie auswendig. Ich versuchte mich an Travelin’ Man zu erinnern und sang es im Stillen vor mich hin. Kaum zu glauben, aber ich hatte den kompletten Song parat. Der Text war unsäglich, aber er kam wie aus der Pistole geschossen. Was man sich in jungen Jahren doch alles einprägen kann! Idiotische Sachen merkt man sich besonders gut.
    And the China doll
    Down in old Hongkong
    Waits for my return.
    Die Songs von den Talking Heads waren bestimmt ganz anders. Die Zeiten ändern sich eben – Times are a-changin’ …
    Ich ließ Yuki in der Wartehalle zurück und ging zum Flugschalter, um unsere Tickets zu besorgen. Da ich das Geld für ihres auslegen sollte, bezahlte ich beide mit meiner Kreditkarte. Bis zum Abflug war noch eine Stunde Zeit, aber unter Umständen würde es eine Verzögerung geben, teilte mir die Bodenstewardess mit. »Achten Sie bitte auf die Ansagen. Momentan ist die Sicht extrem schlecht.«
    »Ist denn ein Wetterumschwung zu erwarten?«, erkundigte ich mich.
    »Laut Vorhersage, ja. Aber das kann noch Stunden dauern«, sagte sie sichtlich gereizt. Wahrscheinlich hatte sie das schon zweihundert Mal erzählt. Das würde jedem auf die Nerven gehen.
    Ich ging zu Yuki zurück und sagte ihr, dass wir wegen des Schnees vermutlich etwas Verspätung haben würden. Sie warf mir lediglich einen kurzen Blick zu, der wohl »Mhm« bedeuten sollte.
    »Keine Ahnung, wie’s weitergeht. Wir sollten das Gepäck besser noch nicht einchecken. Es ist dann so umständlich, es wiederzubekommen«, sagte ich.
    Sie zog ein Mach was du willst- Gesicht, sagte jedoch wieder nichts.
    »Wir müssen also noch eine Weile hier herumlungern. Nicht besonders lustig, hier festzusitzen. Hast du schon was zu Mittag gegessen?«
    Sie nickte.
    »Wollen wir nicht trotzdem in eine Cafeteria gehen? Und etwas trinken? Vielleicht einen Kaffee, einen Kakao, einen Tee, einen Saft oder was immer du willst?« fragte ich. Diesmal machte sie ein Warum nicht? -Gesicht. Ihr Repertoire war offenbar vielseitig.
    »Also, lass uns gehen«, sagte ich und stand auf. Die Samsonite-Koffer hinter uns herrollend, gingen wir zur Cafeteria. Sie war gerammelt voll. Sämtliche Maschinen hatten Verspätung, und alle Passagiere wirkten abgespannt. Wir kämpften uns durch das Gewühl, und ich bestellte mir einen Kaffee und ein Sandwich. Yuki trank eine heiße Schokolade.
    »Sag mal, wie lange warst du eigentlich in dem Hotel?«, unternahm ich einen erneuten Anlauf.
    Sie überlegte kurz. »Zehn Tage.«
    »Und wann ist deine Mutter weggefahren?«
    Sie betrachtete das Schneetreiben vor dem Fenster und sagte mit einiger Verzögerung: »Vor drei Tagen.«
    Ich hatte das Gefühl, Englischkonversation mit Anfängern zu üben.
    »Dann hast du die ganze Zeit Schulferien?«
    »Nee, ich gehe nicht zur Schule. Schon lange nicht mehr. Und jetzt lass mich in Ruhe«, erwiderte sie. Dann kramte sie ihren Walkman heraus und stöpselte sich den Kopfhörer in die Ohren. Ich trank meinen Kaffee aus und las Zeitung. In letzter Zeit zog ich anscheinend den Zorn aller Frauen geradezu an. Wie kam das? Hatte ich einfach nur Pech, oder gab es tiefere Gründe dafür?
    Wahrscheinlich nur Pech, beschloss ich. Nach der Zeitungslektüre kramte ich ein Taschenbuch aus meinem Gepäck: Schall und Wahn von Faulkner. Bei einer bestimmten Art von nervöser Erschöpfung sind Romane von Faulkner und Philip K. Dick erstaunlich leicht zugänglich. In solchen Situationen lese ich dann immer einen von beiden. Sonst aber nicht. Yuki ging zwischendurch auf die Toilette. Als sie zurückkam, wechselte sie die Batterien in ihrem Walkman. Etwa eine halbe Stunde später kam die Ansage, die Maschine nach Narita werde vier Stunden Verspätung haben. Man warte auf einen Wetterumschwung. Ich stieß einen Seufzer aus. Na klasse, noch weitere vier Stunden hier rumhängen.
    Nicht zu ändern. Man hatte mich ja vorgewarnt. Ich sollte zuversichtlich sein. Die Macht des

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