Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz, Pueppchen, Tanz

Tanz, Pueppchen, Tanz

Titel: Tanz, Pueppchen, Tanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Unsere Suiten beginnen im 23. Stockwerk und blicken nach Süden, sodass man eine wunderbare Aussicht auf die Stadt bis zum See hinunter hat.«
    »Und wie viele Suiten mit zwei Schlafzimmern gibt es auf jeder Etage?«
    »Nur eine.«
    Amanda lächelt und lässt die Broschüre in ihre Handtasche gleiten, bevor sie sich mit einem »Vielen Dank« von der Rezeption abwendet.
    »Gern geschehen. Schönen Tag noch.«
    Als Amanda zum Ausgang geht, ist sie ungeheuer zufrieden mit sich. Der bitterkalte Wind, der ihr draußen direkt ins Gesicht peitscht, holt sie rasch wieder auf den Teppich. Na, tolle Leistung, höhnen die Böen, du hast einer übereifrigen Rezeptionistin also ein paar Informationen entlockt. Du hast herausgefunden, wie man Mrs. Mallins findet. Du bist schließlich Anwältin, oder nicht? Du hast es studiert, die richtigen Fragen zu stellen. Die wichtigere Frage ist: Was machst du jetzt?
    Der Portier winkt ein Taxi heran, und Amanda steigt ein.
    »Wohin, Miss?«
    Amanda lehnt sich in das rissige braune Plastikpolster ihres Sitzes zurück und riecht den Hauch von abgestandenen Körpergerüchen, der daraus aufsteigt. Sie zögert und entscheidet sich mehrmals um, bevor sie schließlich sagt:
    »Zum Mount-Pleasant-Friedhof, bitte.«
     
    »Können Sie ein paar Minuten warten?«, fragt sie den Fahrer, der laut einem Ausweis, der auf der Rückseite des Vordersitzes klebt, auf den Namen Abdul Jahib hört.
    »Uhr läuft«, erklärt er ihr mit einem Achselzucken.
    »Es dauert nicht lange.« Sie dirigiert ihn über eine gewundene Straße, die quer durch den Friedhof führt, ein riesiges Grundstück mitten in der Stadt, im Norden und Süden begrenzt von Davisville Avenue und St. Clair Avenue, im Osten und Westen von Mount Pleasant Road und Yonge Street. Es ist ein wunderbarer Ort, selbst im Schnee, mit sanft geschwungenen Hügeln und einer wilden Vielfalt von Bäumen. Alles, was man von einer letzten Ruhestätte erwarten konnte. Friedlich. Still. Zentrale Lage. Tolle Aussicht. Die Leute würden sich glatt umbringen, um hier reinzukommen, hört sie jemanden sagen und blickt sich dann schreckhaft um, als befürchtete sie Gespenster in ihrem Rücken. »Hier rechts«, weist sie den Fahrer an, »dann noch mal rechts. Und jetzt hier entlang.«
    Abdul Jahib hält vor einem kleinen grauen Grabmal, das von einem großen steinernen Engel bewacht wird. Amanda steigt aus und liest im Vorbeigehen die Informationen auf dem Stein. VERA TRUFFAUT, 1912-1998, womit Vera bei ihrem Tod 86 Jahre alt war, rechnet Amanda aus, ein absolut würdiges Alter zum Sterben.
    Sie geht weiter an der Reihe von Gräbern entlang, und der Schnee versaut ihre definitiv nicht wintertauglichen Stiefeletten. Schon jetzt spürt sie, wie die Feuchtigkeit das dünne Leder durchweicht und sich unbehaglich zwischen ihren Zehen breit macht, obwohl sie sich das vielleicht auch nur einbildet. Trotzdem, lange kann es nicht dauern. Diese Schuhe sind eher dekorativ als praktisch und nicht dazu entworfen worden, um damit im tiefsten Winter über schneebedeckte Friedhöfe zu stapfen.
    STEPHEN MOLONEY, 1895-1978, liest sie, gestorben mit dreiundachtzig. Direkt neben MARTHA MOLONEY, 1897-1952, gestorben mit fünfundfünfzig. »Da hat aber einer ein mieses Geschäft gemacht«, bemerkt Amanda, beschleunigt ihre Schritte und wäre fast auf einer kleinen schwarzen Eisfläche ausgerutscht. JACK STANDFORD, 1912-1975. »Dreiundsechzig.« ARLENE HILL, 1916-1981. »Fünfundsechzig.«
    Vor einem rosefarbenen Granitstein bleibt sie abrupt stehen. EDWARD PRICE. 1933-1992. LIEBEVOLLER EHEMANN UND VATER. »Gestorben mit neunundfünfzig«, flüstert Amanda und spürt, wie sich der Geist ihrer Mutter von hinten anschleicht und ihr ins Ohr kreischt.
    Nun, kein Wunder, dass dein Vater einen Herzinfarkt hatte, bei einer Tochter wie dir!
    IN UNSEREN HERZEN LEBST DU FÜR IMMER WEITER.
    »Hi, Daddy«, sagt Amanda mit Tränen in den Augen, die auf ihren Wangen gefrieren.
    Hallo, Püppchen, hört sie ihn sagen.
    Es ist lange her, fährt sie stumm fort.
    So lange auch wieder nicht.
    Elf Jahre.
    Das ist nicht so lang.
    Ich war weg. Ich lebe jetzt in Florida. Ich bin Anwältin. Wusstest du das?
    Natürlich. Ich weiß alles über dich. Und ich bin so stolz auf dich.
    Wirklich? Warum? Als du noch gelebt hast, hast du dich nie groß für mich interessiert.
    Du musst verstehen, dass deine Mutter eine schwere Zeit durchgemacht hat. Sie hat getrunken. Sie war depressiv. Sie brauchte meine Aufmerksamkeit, meine

Weitere Kostenlose Bücher