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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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sich wünschte, er wäre noch am Leben. Sie würde bald merken, was sie an ihm gehabt hatte.
    »Reisen Sie allein?«, wurde er in kehligem Englisch gefragt.
    »Nein, mit meiner Frau und meinem Sohn. Sind Sie Arzt?«
    »Ich bin Chirurg, ja. Verzeihen Sie! William O’Loughlin, ich habe mich Ihnen nicht vorgestellt.« Er reichte Matheus die Hand.
    »Matheus Singvogel. Arbeiten Sie immer auf einem Schiff?«
    »Ich bin seit vierzig Jahren zur See unterwegs. Machen Sie sich keine Sorgen, wir sind bestens ausgestattet. Wir haben alle Instrumente und Medikamente, die wir brauchen könnten. Was fehlt Ihnen, was kann ich für Sie tun?«
    Matheus nahm allen Mut zusammen. Er fürchtete, gleich Entsetzen im Gesicht des Arztes zu lesen. Aber die Wahrheit musste heraus. »Mein Urin ist dunkel. Dazu kommen die Augen. Ich hab auf der Reise versäumt, sie mit kaltem Wasser auszuwaschen, womöglich sind dort schon Larven geschlüpft, es gibt doch winzige Insekten, die als Parasiten Menschenaugen befallen, und meine Augen jucken. Außerdem habe ich das Gefühl, dass der Adamsapfel – Adam’s apple , ist das richtig? –, also, dass mein Adamsapfel angeschwollen ist. Er kommt mir sehr groß vor.«
    Der Arzt leuchtete in die Augen, besah den Adamsapfel. »Ihr Adamsapfel hat eine normale Größe, er scheint mir nicht angeschwollen zu sein. In den Augen kann ich auch keine Entzündung sehen.«
    Wie oberflächlich er ihn untersuchte! »Ich bin mir sicher, Sir, da ist etwas nicht in Ordnung mit mir. Eine schwere Erkrankung, ich spüre es. Prüfen Sie mich bitte gründlich und seien Sie ganz offen, ich muss wissen, wie viel Zeit mir bleibt.«
    »Mister Singvogel, belasten Sie zurzeit irgendwelche Sorgen?«
    »Nein.«
    »Sind Sie verschuldet?«
    »Nein.«
    »Und Ihre Ehe, ist da alles zum Besten bestellt?«
    Er zögerte. »Ich … bin mir nicht sicher.«
    »Wissen Sie, manchmal empfinden wir eine Krankheit, weil wir einem anderen, schwerwiegenden Problem ausweichen. Sie sind gesund. Ihrem Körper geht es gut.«
    »Der Urin, Doktor, und die juckenden Augen, das ist doch keine Einbildung!«
    Der Arzt nickte. »Ich kann Ihnen gegen die Unruhe eine Mixtur aus Chloroform und Morphin verabreichen. Und es gibt nervenstärkende Mittel, Beecham’s Pills aus Aloe, Ingwer und Seife, Tidman’s Sea Salt, Ambrecht’s Coca Wine. «
    »Was würden die kosten?«
    »Krankheiten, die an Bord entstanden sind, werden von mir kostenfrei behandelt. Auch alle Medikamente sind kostenfrei. Aber lieber wäre es mir, wenn Sie auf Medikamente verzichten könnten. Sprechen Sie sich mit Ihrer Frau aus. Wenn es Ihnen übermorgen nicht besser geht, sehe ich Sie mir noch einmal an, einverstanden?«
    Die Passagiere saßen in ihren Liegestühlen, blätterten im illustrierten Versandhauskatalog von Sears, Roebuck & Co oder in der Bordzeitung Atlantic Daily Bulletin , um die neuesten Börsenkurse nachzulesen oder die Ergebnisse der Pferderennen. Sie ließen sich von den Stewards heißen Tee bringen, räkelten sich vor den Fotokameras ihrer Angehörigen und lächelten in das schwarze Kästchen aus Karton für einen Schnappschuss zur Erinnerung an den Urlaub auf dem Luxusdampfer.
    Sie hingegen, Cäcilie, durfte sieben Schiffsetagen nach Samuel durchsuchen. Wütend stampfte sie durch die Korridore. Er würde sich etwas anhören müssen. Der Junge hatte einfach die Bibliothek verlassen und spielte jetzt vermutlich irgendwo lustig mit anderen Kindern Domino, während sie durchs ganze Schiff lief und ihn suchte.
    Wie viele Sorgen man mit einem Kind hatte!
    Sie musste daran denken, wie sie ihn letztes Jahr zur Rettungswache gebracht hatte, als der Junge vom Spielen mit einer Platzwunde am Kopf wiederkam, und wie sie noch Tage später seine Verbände gewechselt und die Wunde abgetupft hatte.
    Sie dachte daran, dass Samuel sie vor seiner Einschulung gebeten hatte, ihm aus der Fibel vorzulesen. Er fürchtete sich vor der Schule, und sie sollte ihm helfen, sich darauf einzustellen. Natürlich las sie ihm vor. Unser Kaiser heißt Wilhelm. Er wohnt in Berlin. Er sorgt für alle seine Untertanen wie ein Vater für seine Kinder. Wir alle lieben unseren Kaiser. Seinen Geburtstag feiern wir im Januar. Dann beten wir für den Kaiser und hören aufmerksam auf das, was uns von ihm erzählt wird. Zum Schluss singen wir: »Hurra! Heut ist ein froher Tag, des Kaisers Wiegenfest! Wir freuen uns und wünschen ihm von Gott das Allerbest!« Wir singen froh und rufen laut: »Der Kaiser lebe hoch! Der

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