Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
glaube nicht, dass ich nicht um sie trauere. Mein Herz weint, auch wenn meine Augen nicht weinen können.«
Darauf schien Iegi keine Antwort zu haben.
Tarean rieb sich gedankenverloren übers Kinn. Hafftas Offenheit überraschte ihn ebenso wie ihr Versuch, sich den anderen anzunähern. Er fragte sich, ob sie womöglich einsam war – immerhin hatte sie ihr ganzes Leben in der Gemeinschaft anderer verbracht – und ob daher ihr Wille rührte, selbst ehemalige Feinde als eine Art neue Sippe anzunehmen.
»Wo habt ihr diese Wolfsfrau eigentlich gefunden?«
Der Junge wandte den Kopf, als er die vertraulich gesenkte Stimme an seiner Seite vernahm. Auril war in den Steuerstand geklettert und zu ihm getreten. Sie lehnte sich neben ihn an die Brüstung, eng genug, um ein Gefühl von Nähe zu vermitteln, aber doch nicht so eng, wie Tarean es sich gewünscht hätte. Ihre Hand streifte unbewusst die seine, und die Berührung erinnerte Tarean an all das, was er in den letzten sechs Monden vermisst hatte – und noch immer vermisste.
Jetzt ist der falsche Zeitpunkt, über uns nachzudenken, ermahnte er sich innerlich.
»Tarean?«, hakte Auril nach, als er nicht antwortete.
Der Junge räusperte sich. »Ja. Haffta. Das ist eine … hm … etwas längere Geschichte.«
Die Albin deutete ein Schulterzucken an. »Wir haben im Augenblick nicht viel zu tun, oder? Vor heute Abend werden wir Durai nicht erreichen, es sei denn, der Wind frischt spürbar auf.«
Sie hatten sich darauf geeinigt, die große, etwa neunzig Meilen vom Bruch entfernte Metropole im Norden Nondurs anzusteuern und von dort aus in gerader Linie nach Süden zu reisen. Laut Aurils Angaben, die alles Land südlich von Durai indes auch nur dem Hörensagen nach kannte, sollte sie das auf schnellstem Wege zu ihrem Ziel führen. Im Zweifelsfall sollte ein Blick auf den Wegfinder genügen, den die Steinernen Tarean mitgegeben hatten und der hier bereits deutlich kräftiger glühte als noch im Felsendom von Tiefgestein.
»Das stimmt auch wieder«, gab Tarean zu. Und dann erzählte er Auril von Iegis und seiner Übernachtung in der Siedlung der Setten einige Tagesreisen südlich von Tiefgestein und vom Überfall der Grawls unter dem Befehl des Hexers. Er berichtete gerade von der Entführung Ro’iks, als ihm die Frage in den Sinn kam, ob Calvas zusammen mit Raisils Körper wohl auch den Greifen am Bruch aufgegeben hatte. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht, im Anschluss an ihren Zusammenstoß mit dem Hexer nach dem verschwundenen Vogelpferd zu suchen. Und jetzt war es natürlich viel zu spät.
»Was ist?«, erkundigte sich Auril, die sein Zögern bemerkt hatte.
»Ich musste gerade an Ro’ik denken«, antwortete Tarean. »Wir haben ihn völlig vergessen. Wie es ihm wohl geht?«
Aurils Blick glitt in die Ferne. Es hatte den Anschein, als schaue sie weit über den Bug des grauen Flugschiffes hinaus, doch was immer sie dort sah, es war offenbar nicht Ro’ik, denn sie schüttelte nur den Kopf. »Das kann ich dir leider auch nicht sagen.«
»Ich hoffe, es ist ihm gelungen, Calvas’ Schatten zu entkommen. Ro’ik hat mir so treue Dienste geleistet. Ich vermisse ihn, auch wenn ich dank deiner Eroberung«, er klopfte bezeichnend auf die Holzkante des Steuerstandes, »nicht mehr auf ihn angewiesen bin, um rasch und bequem die Glutlande zu erreichen.«
Auril presste die Lippen zusammen, und in ihren Augen flackerte es für einen Moment. »Tarean, über das Schiff müssen wir noch mal sprechen.«
»Was ist damit?«
Sie löste sich ein wenig von ihm, strich ihr langes, schwarzes Haar zurück und lächelte gezwungen. »Wir … nun, wir sollten nicht mit Ardos Schiff nach Süden fliegen. Um genau zu sein, sollten wir versuchen, es in Durai loszuwerden.«
»Aber weshalb? Wir haben es in einem ehrlichen Überfall – der auf uns verübt wurde, wohlgemerkt – erbeutet.«
Die Albin sah zu Boden, als läge dort die Antwort auf die Frage des Jungen, dann hob sie mit ernstem Blick den Kopf. »Nun, ich kenne Ardo von früher. Er mag den Begriff Eigentum im Allgemeinen sehr großzügig auslegen. Doch er liebte schon immer seine Flugschiffe. Dass er sein erstes Karnodrim als Unterpfand überließ, nachdem er dessen Hab und Gut durch einen dummen Schmuggel verloren hatte, war vielleicht seine letzte selbstlose Tat – und ein ziemlich großes Opfer. Als sein zweites von einem Luftpiraten gestohlen wurde, rief er alle zusammen, die ihm noch einen Gefallen schuldig waren, und
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