Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Raubvogelaugen ließ dem Jungen die Nackenhaare zu Berge stehen. Wäre der Taijirinkrieger ein Adler und Tarean ein kleines Pelztier gewesen, so wäre sein Leben in diesem Augenblick keine Kupfermünze mehr wert gewesen.
Mit Einbruch der Dunkelheit wandelte sich die Stimmung in Airianis. Das Feierliche der Sturmweihe und die Anspannung der Wettkämpfe wichen einer heiteren Ausgelassenheit. Überall in der Stadt entzündeten die Taijirin die aufgehängten Laternen und Lampions und widmeten sich dem angenehmen Teil des Tages. Auf zahllosen Plattformen vor ihren Rundhäusern waren Tische und Bänke aufgestellt worden, um gemeinsam zu essen und zu trinken. Auf größeren Plätzen, etwa vor der Ratshalle oder der Himmelszitadelle wurde Speis und Trank für jene angeboten, die lieber im großen als im kleinen Kreise feierten. Dazu spielten Musikantengruppen auf traditionellen Instrumenten zum Tanz auf, wobei sich vor allem die jüngeren Vogelmenschen nicht darauf beschränkten, allein über die Tanzfläche am Boden zu wirbeln, sondern sich vielmehr zu Dutzenden hoch in die Luft erhoben, wo sie sich mit geschickten Flügelschlägen übermütig zum Klang der Flöten und Windharfen bewegten.
Tarean saß an der großen Tafel König Ieverins, einen übervollen Teller mit Gebratenem, frischem Brot und Obst vor sich, und betrachtete mit in den Nacken gelegtem Kopf staunend das hoch über ihm stattfindende Treiben. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass die Vogelmenschen so grazil in der Luft zu tanzen vermochten. Denn es war eine Sache, sich fliegend von einem Ort zum anderen zu bewegen, jedoch eine ganz andere, sich auf engstem Raum zu umkreisen und Pirouetten zu drehen, ohne dabei mit anderen Tänzern zusammenzustoßen. Es war ein eindrucksvolles Schauspiel.
»Ja, mein Freund Tarean. Wir Taijirin wissen nicht nur, Krieg zu führen, wir vermögen auch zu feiern.«
Tarean wandte den Kopf um und erblickte Iegi und Raisil, die sich Seite an Seite von der Zitadelle in seinem Rücken näherten. Es schien, als würden sich Nistbruder und Nistschwester wieder vertragen. Hätte das Mädchen nicht einen frischen Verband am Kopf getragen, hätte ein unbeteiligter Beobachter keinen Anhaltspunkt dafür gehabt, dass heute Nachmittag überhaupt etwas vorgefallen war.
»Wie schön, euch zu sehen«, begrüßte der Junge die beiden. »Habt ihr euren Zwist beilegen können?«
»Ich denke, ich konnte Iegi verdeutlichen, welches Vergehen ich ihm zur Last lege und dass er dafür in meiner Schuld steht«, erwiderte Raisil mit selbstzufriedener Miene.
Der Taijirinprinz zog spielerisch den Kopf ein. »Das hat sie in der Tat. Mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln. Also wenn ich dir einen Rat unter Freunden geben darf: Begehe nie den Fehler und lege dich mit ihr an.«
»Das habe ich auch nicht vor«, gab Tarean schmunzelnd zurück. Raisil mochte Iegi vergeben haben – denn im Grunde war sie genauso ein Heißsporn wie er und konnte die Beweggründe für sein unverantwortliches Handeln zweifellos nachvollziehen –, aber Tarean war sich ziemlich sicher, dass sie es Iegi noch eine ganze Weile spüren lassen würde, dass der Zwischenfall in den Tausend Zinnen deswegen keineswegs vergessen war. »Wie geht es Ishilrin?«, erkundigte er sich.
»Es geht ihr schon besser, den Lichtgefiederten sei Dank«, antwortete Iegi. »Liftrai hat sie vorhin in die Palaststallungen zurückgebracht.«
»Das freut mich zu hören.« Tarean wusste, dass der Greifenmeister ein Heilamulett besaß, wie auch Tarean mit Kilrien einst eines sein Eigen genannt hatte. Es hätte ihn verwundert und erschreckt, wäre es Liftrai damit nicht gelungen, die Verletzung des Vogelpferdes zu behandeln. »Aber wollt ihr euch nicht setzen? Der Braten ist köstlich.«
Er wollte auf der Bank ein Stück zur Seite rücken, doch Iegi ließ ihn mit einer Geste innehalten. »Danke. Wir haben auf dem Weg nach draußen bereits ein paar Bissen in der Küche gestohlen. Außerdem habe ich Raisil versprochen, ihr den ganzen Abend zur Verfügung zu stehen …«
»Er beginnt ganz langsam, seine Schuld bei mir zu begleichen«, warf das Mädchen ein.
»… und Raisil möchte tanzen.« Iegi zuckte mit den Schultern. »Also gehen wir jetzt tanzen. Kommst du mit?«
»Irgendwie fehlt mir dazu etwas. Auf dem Rücken«, erwiderte Tarean mit schiefem Grinsen und bewegte vielsagend die Schultermuskeln. »Schade, dass Karnodrim nicht hier ist. Er hätte mir sicher aus einer Handvoll
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