Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
hielt er in der Luft inne. Was tust du da? , fragte ihn eine innere Stimme streng. Du bist kein Dieb.
Ich stehe gerade im Begriff, einen Greifen zu entführen , erwiderte der Junge in Gedanken. Ist das kein Diebstahl?
Das ist etwas anderes , beschied die aufrechte Hälfte seines Geistes. Ro’ik brauchst du, um von hier fortzukommen. Dieses Amulett aber gehört Liftrai, und sein Besitz ist nicht notwendig, sondern käme dir nur gelegen!
Ach, verdammt! Tarean zog die Hand zurück, glitt aus dem Stall heraus und schloss vorsichtig die Pforte.
Moosbeere drehte ungeduldig kleine Kreise in der Luft.
Sie hatten Ro’ik aus seinem Stall geführt, und Tarean befestigte gerade sein Gepäck mit einem Gurt am Rücken des Greifen, als sie vom Heuboden herab eine leise Stimme vernahmen. »Was machst du da, Tarean?«
Der Junge hob den Kopf und sah das Gesicht von Iegi, das ihn von oben mit einer Mischung aus Überraschung und Unwillen anblickte. Tarean fluchte lautlos. »Hast du nicht vorhin gesagt, es sei alles in Ordnung?«, raunte er Moosbeere mit gepresster Stimme zu.
»Ich sagte: Sieht in Ordnung aus«, verbesserte das Irrlicht schnippisch.
Mit einem kurzen Rauschen ausgebreiteter Flügel sprang der Freund zu ihnen hinab und baute sich vor ihnen auf. »Was soll das werden?«, flüsterte der Taijirinprinz und deutete auf Ro’iks Gepäckgurt. »Das ist doch keine weitere Wanderung in die Berge, die du vorhast, oder?«
»Hallo, Iegi«, grüßte Tarean und versuchte, sich seine Verlegenheit nicht zu sehr anmerken zu lassen. »Was tust du denn hier zu dieser frühen Stunde?«
Iegi hob beschwörend die Hände. »Nicht so laut«, zischte er, und sein Blick zuckte unwillkürlich zur Kante des Heubodens hoch.
Tareans Augen folgten seinem Blick, dann richteten sie sich wieder auf den Freund und weiteten sich noch im selben Augenblick vor Überraschung, als der Junge bemerkte, dass Iegis helles Hemd aufgeschnürt war und er zudem keine Schuhe trug. »Oh. Du bist nicht allein?«
Auf dem Antlitz des Taijirinprinzen deutete sich ein schiefes Lächeln an. »Damit sind wir schon zwei, die meinem Vater nicht darüber Rechenschaft ablegen wollen, was wir bei Sonnenaufgang in den Stallungen treiben.«
»Iegi?« Über der Kante des Heubodens tauchte ein weiteres Gesicht auf, weiblich diesmal und noch sichtlich verschlafen. Es war Raisil, und als sie bemerkte, dass der junge Vogelmensch keineswegs mit sich selbst oder einem der Greife sprach, stieg ihr eine leichte Röte in die Wangen. »Tarean …«
Tarean verspürte einen Stich in der Brust, über den er sich im nächsten Augenblick schon ärgerte. Es gab bereits mehr Frauen in seinem Leben, als gut für sein Seelenheil war, und dass Raisil für ihren Nistbruder mehr als nur freundschaftliche Gefühle hegte, hätte ihm schon viel früher klar werden können, wenn er nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre.
Er räusperte sich. »Guten Morgen, Raisil.«
Es raschelte kurz über ihren Köpfen, dann ließ sich Iegis Nistschwester vom Heuboden fallen. Auch sie war nur nachlässig gekleidet, und auch ihr war dieses frühmorgendliche Zusammentreffen sichtlich unangenehm, denn sie musterte Tarean nur kurz und schlug dann die Augen nieder. Verlegen standen sie einander gegenüber.
»Ich störe ja nur ungern diese schweigsame Runde, aber uns läuft die Zeit davon, Tarean«, mischte sich Moosbeere ein. »Also redet miteinander oder geht verschämt eurer Wege.«
Iegi nickte. »Ich hoffe, du erwartest nicht, dass ich dir Einzelheiten meiner letzten Nacht enthülle. Doch es stellt sich die Frage, wie deine letzte Nacht ausgesehen haben mag, dass du dich entschlossen hast, ohne Vorwarnung und in aller Heimlichkeit Airianis den Rücken zu kehren. Oder«, er trat zu Ro’ik hinüber und legte ihm die Hand auf den Hals, »verstehe ich das hier falsch?«
Tarean schüttelte den Kopf. »Nein«, gestand er mit einem Seufzen. Und dann erzählte er Iegi und Raisil, beginnend mit Moosbeeres Auftauchen auf dem Festplatz vor der Himmelszitadelle, von dem Zwischenfall, der sich in der gestrigen Nacht der Sturmweihe zugetragen hatte. Nur die seltsame körperliche Verwandlung des Irrlichts, die er nun schon zum zweiten Mal miterlebt hatte, verschwieg er. Es widerstrebte ihm auf unerklärliche Art und Weise, Außenstehenden Moosbeeres Fähigkeit, sich in eine menschliche – oder menschenähnliche – Frau zu verwandeln, preiszugeben. Und auch das Irrlicht, das sich ohnehin nach eigenem
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