Tate Archer – Im Visier des Feindes: Band 1 (German Edition)
stelle sie mir vor, ihre schwarzen Haare in dem ewigen Pferdeschwanz aus dem Gesicht gebunden, ihre bernsteinfarbenen Augen blicken scharf und angestrengt, während sie auf das Display des Telefons einhackt. Sie fühlt sich so nah an, nur auf der anderen Seite dieses elektronischen Verbindungsfadens, aber ich weiß nicht, wie ich an sie herankommen soll. Denn sobald ich es tue, muss ich ihr mitteilen, dass mein Vater tot ist. Und das will ich nicht, weil es das wahr machen würde, weil es dadurch unmöglich würde, es zu leugnen oder zu vergessen. Ich ertrage es nicht, zusätzlich zu meiner eigenen Trauer auch noch ihre aushalten zu müssen, deshalb schreibe ich zurück: Treffe um vier Uhr Partner am Stadion. Rufe Dich danach an.
Dann stelle ich das Telefon stumm und stopfe es zurück in meine Tasche.
Ich schaue rüber zu Christina, die mich ihrerseits ansieht. »Meine Mom«, erkläre ich.
»Weiß sie Bescheid … über das alles?« Mit der Hand macht Christina eine kreisende Bewegung, die die ganze Welt einschließt, die Verrücktheit von allem.
Ich zucke die Achseln. »Das finden wir später raus. Ich muss nachher mit ihr sprechen, aber vorher will ich das hier hinter mir haben. Erst mal muss ich wissen, was Brayton will und ob er uns wirklich in Sicherheit bringen kann.«
Es ist nicht das erste Mal heute, dass ich mich frage, ob es besonders klug war, Christina mitzunehmen. Ganz offensichtlich war es für mich besser so, denn wenn sie nicht gewesen wäre, läge ich jetzt vermutlich auf irgendeinem Tisch in einem Leichenschauhaus. Aber sie … sie hätte ihren Schultag hinter sich gebracht, und ihre größte Sorge wäre gewesen, rechtzeitig bis zur Chemieklausur am Freitag exotherme Reaktionen zu verstehen.
»Es ist schön hier«, sagt sie mit einem Blick auf den Fluss, während wir über die Brücke laufen. Die Strahlen der Nachmittagssonne funkeln auf den Booten. Sie schweben über die Wasseroberfläche. Gelb auf Marineblau. Eine Sekunde lang tue ich so, als ob. Ich stelle mir vor, wir wanderten an einem Samstagnachmittag durch den Central Park, überquerten die Bow Bridge, liefen über die schlingernden Seitenwege am Belvedere Tower, die vielen eine Gelegenheit bieten, sich davonzuschleichen und sich näherzukommen. In diesem Moment vergesse ich, dass meine Freundin einer Alienrasse angehört, die sämtliche Regierungen der Welt infiltriert hat. Sie ist einfach bloß Christina, und wenn ich mit ihr zusammen bin, ist alles in Ordnung. Doch meine kleine Fantasie dauert nur so lange an, bis die ersten Universitätsgebäude in Sichtweite kommen. Dann verdampft sie in der Hitze meiner Anspannung.
Wir spazieren durch die Stadt und sehen dabei aus wie ein Pärchen, das in Princeton studiert und einen ziemlich merkwürdigen Modegeschmack hat. Christinas Hand schwitzt in meiner und ich drücke sie fest. »Wir nähern uns von der Seite, okay?«
Sie schaut mich an. »Du traust dem Kerl nicht.«
»Nein, ich weiß bloß nicht, ob ich ihm trauen kann. Noch nicht. Und bis ich weiß, dass ich es kann, bleibst du besser außer Sichtweite.«
Sie bleibt abrupt stehen. »Okay, und während ich mich verstecke, wirst du was tun?«
»Reden.«
Sie zieht ihre Hand aus meiner. »Willst du nicht, dass ich euer Gespräch mit anhöre?«, fragt sie fassungslos.
Das würde sie mich gar nicht fragen, wenn ich sie nicht vorhin beschuldigt hätte, eine Verräterin zu sein. »Nein, darum geht es doch überhaupt nicht. Es ist bloß … ich kenne ihn nicht so gut.«
Sie bleibt still, während wir die Sportplätze überqueren. Aber es ist eine belastete Stille, die schwer auf mir liegt. Damit kann ich im Augenblick nicht umgehen, weil ich konzentriert bleiben muss. Brayton könnte mein stärkster Verbündeter sein, der Typ, der mir den Tag rettet, der Typ, der alles erklärt. Das hoffe ich. Aber für den Fall, dass er es nicht ist …
Wir überqueren die Streicher Bridge in Richtung Powers Field, der Heimat der Princeton Tigers. Auf dem an die Südseite des leeren Stadions angrenzenden Spielfeld findet gerade ein Wettkampf statt. Ich schätze mal, dass Brayton, wenn er hier ankommt, am Nordeingang sein wird, weil das günstiger ist, wenn er mit dem Auto kommt, und es dort im Augenblick menschenleer ist.
Christina und ich kommen von Westen. Die Sonne scheint warm auf meinen Rücken, als wir uns dem massiven Betonbau nähern, der alle fünf Meter oder so eine große rechteckige Öffnung hat, durch die man in den schattigen Bereich
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