Tate Archer – Im Visier des Feindes: Band 1 (German Edition)
eintreten. Der Raum ist eine Bibliothek. Drei der Wände sind Einbauregale, zwei Stockwerke hoch, mit einer rollbaren Leiter, die den Zugang zu den Büchern auf den oberen Regalbrettern ermöglicht.
In der Mitte des Raums steht ein Mann, der aussieht wie der Weihnachtsmann: gewaltiger weißer Bart, runder Bauch, rosige Wangen, gelocktes weißes Haar. Außerdem hat er die buschigsten Augenbrauen, die ich jemals gesehen habe; so als hätte ihm jemand zwei Chinchillas auf die Stirn geklebt.
Er streckt den Arm aus und wackelt mit seinen dicken Fingern. »Mitra. Ich hab dich zwar schon seit der Hochzeit nicht mehr gesehen, aber du bist keinen Tag älter geworden.«
Meine Mutter lächelt. »Du bist zu freundlich, Rufus.« Sie tritt nach vorne und lässt sich umarmen.
Über ihre Schulter hinweg begegnen seine Augen meinen. Sie sind ganz glänzend und vergnügt, aber es liegt auch etwas anderes darin, eine starke Neugierde.
»Du siehst genauso aus wie dein Vater, junger Mann«, wendet er sich an mich.
Ich lächele und strenge mich an, damit es freundlich wirkt. »Danke.«
»Wo ist Fred?«, fragt Rufus meine Mutter, als er sie loslässt. »Trefft ihr euch hier?«
»Fred wurde gestern getötet«, sagt Mom mit belegter Stimme.
Die Farbe weicht Rufus Bishop aus dem Gesicht. In seiner Stimme liegt aufrichtige Traurigkeit, als er sagt: »Das wusste ich nicht. Es tut mir so leid.« Er reibt sich mit der Hand über den Bauch, die Stirn in Falten gelegt. »Das ist so traurig. So traurig. Wie ist das passiert?«
»Der Kern war hinter ihm her, allen voran Race Lavin«, sagt meine Mutter schlicht. »Fred wurde bei einem Fluchtversuch erschossen. Aber Tate hat es geschafft und ist zu mir gekommen. Deswegen sind wir hier. Wir haben versucht, nach Charlottesville zu kommen, aber die Agenten haben uns verfolgt. Dabei wurde Christina verletzt.«
Rufus’ buschige Augenbrauen heben sich. »So einen unverhohlenen Angriff hat es seit Jahren nicht mehr gegeben, nicht seit Anton Cermak.« Er sieht meinen fragenden Gesichtsausdruck und erklärt: »Er ließ sich zum Bürgermeister von Chicago wählen und hat gedroht, die H2 zu outen. Er schüttelte Roosevelt die Hand, als er erschossen wurde. Man behauptete, es sei ein Mordversuch am Präsidenten gewesen, aber die Mitglieder der Fünfzig wussten es besser.«
Er verschränkt die Arme vor der Brust, als hätte er irgendeine Entscheidung getroffen. »Wenn der Kern jetzt hinter euch her ist, müssen sie die Bedrohung als immens beurteilen. Hier seid ihr sicher. Wir nehmen die Sicherheit sehr ernst.«
Und dann landet der Blick seiner blassblauen, blutunterlaufenen Augen genau auf mir. Ich habe gerade genug Zeit, mich zu wundern, weshalb er uns nicht fragt, was wir getan haben, um den Kern so gegen uns aufzubringen, als er sagt: »Ihr werdet sicher verstehen, dass ich euch bitte, mir euer Eigentum auszuhändigen, damit wir es durchsuchen können.«
Dabei zeigt er in Richtung des Rucksacks und seine Lippen verziehen sich zu einem kalten, berechnenden Lächeln.
FÜNFZEHN
Ich werfe meiner Mutter einen Seitenblick zu und sie nickt. Ich winde die Arme aus dem Rucksack und halte ihn hin, als die stämmigen Zwillinge den Raum betreten. Meine Mutter überreicht einem von ihnen ihre Tasche. Rufus nimmt den Rucksack von mir. Er öffnet ihn und scheint noch nicht einmal überrascht zu sein, als er den Scanner erblickt. Er nimmt ihn heraus und hält ihn hoch.
»Darum ging’s, oder?«, fragt er mich.
Ich stecke die Hände in die Taschen und setze mein Ahnungsloses-Kind-Gesicht auf. »Wobei?«
Er kichert. »Ich seh für dich wahrscheinlich wie ein dämliches Landei aus, was?« Er sagt die Worte heiter, aber es ist nicht schwer, die Drohung zu erkennen, die sich dahinter verbirgt. »Lass dir mal was sagen, das du vielleicht nicht weißt, Junge. Ich habe schon für Black Box gearbeitet, bevor das überhaupt Black Box war . Ich war derjenige, der deinen Vater eingestellt hat, nachdem er das College abgeschlossen hatte.«
Jetzt bin ich wirklich ein ahnungsloses Kind, kein Vortäuschen notwendig.
Als Rufus meine Überraschung sieht, überzieht ein Hauch von Zufriedenheit sein Gesicht. »Nur weil wir das Leben hier draußen gewählt haben, heißt das nicht, dass wir dumm sind.« Er wendet sich von mir ab und wedelt mit dem Scanner in Richtung meiner Mom. »Also. Darum ging’s, stimmt’s?«
»Darum ging es«, bestätigt meine Mutter. »Das ist es, was der Kern unbedingt haben wollte.«
Rufus
Weitere Kostenlose Bücher