Tatsache Evolution
Themen des vorliegenden Kapitels, der
Paläobiologie
und dem Konzept der
dynamischen Erde
. In den nächsten Abschnitten wollen wir die historischen Wurzeln dieser Wissenschaftsdisziplinen kennenlernen , dann auf Darwins Erdbeben-Erlebnis zu sprechen kommen und am Ende eine Synthese dieser Befunde vollziehen.
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|194| Muscheln auf Bergen im Zentrum von Deutschland und eine Seligsprechung
Im bergigen Wolfhager Festland bei Kassel, d. h. mitten in Deutschland (bzw. Europa), findet man in Sedimentformationen des Unteren Muschelkalk (Trias, ca. 248 Mio. J. alt) neben zahllosen Bruchstücken von Meeresmuscheln auch marine Schnecken und Seelilien (Abb. 7.2 A, B). Wie gelangten Muscheln und andere Meeresorganismen auf Berge?
Dieser Frage ist der Mönch, Anatom und Geologe Nicolaus Stenonis, genannt Steno (1638 – 1686) nachgegangen. In seiner lateinischen Schrift
De solido intra solidum naturaliter contento
dissertationis prodromes,
ins Deutsche übersetzt »Vorläufer einer Abhandlung über Festes, das in der Natur in Festem eingeschlossen ist« (1669) vermutete Steno, dass die Erde nicht |195| statisch sei, sondern wahrscheinlich ein dynamisches, sich stetig umbildendes System darstellt. Auf Grundlage der von ihm besonders intensiv untersuchten »Muscheln auf Bergen« folgerte Steno sinngemäß, dass jene Meeresweichtiere, welche die Schalen abgesondert haben, nach dem Tod in Sedimente eingegraben wurden, wo dann die Muschelschalen zu Stein geworden sind. Nach Rückzug des Meeres konnte man die versteinerten Muscheln (d. h. Fossilien) an trockenem Festland im Sedimentgestein finden.
Abb. 7.2: Fossile Meerestiere in der Mitte Deutschlands. Während des Zeitabschnitts der Trias (Unterer Muschelkalk, vor etwa 248 Mio. J.) wurden kalkige und mergelige Gesteine abgelagert. Im Muschelkalkmeer lebten u. a. Schnecken (
Omphaloptycha
) (A) und Seelilien (
Chelocrinus
) (B). Die Versteinerungen wurden am Großen Hopfenberg südöstlich von Wolfhagen bei Kassel gefunden (nach Bös, W. & Kunz, R.:
Geologische Sehenswürdigkeiten im Wolfhager
Land
. Landkreis Kassel-Wolfhagen, 2002).
|195| Diese naturalistische Erklärung des gläubigen Mönchs Nicolaus Steno stand im Widerspruch zum christlich-religiösen Schöpfungsglauben seiner Zeitgenossen: Versteinerte Fische, Schnecken u. a. Dokumente der Erdgeschichte (Abb. 7.1, 7.2) wurden als »Relikte der Sintflut« und somit als »Beweise« für die Korrektheit der Bibel interpretiert. Wie A. Cutler (2003) ausführt, sollen diese »Sintflut-Relikte« ein erkennbares Mahnzeichen für die Sündhaftigkeit des Menschen und die Macht des biblischen Gottes symbolisiert haben. Es ergab sich jedoch bei wörtlicher Auslegung der Bibel, wie sie noch heute von Kreationisten vertreten wird (Kutschera 2004, 2007 a), das folgende Problem: Im »Heiligen Buch« steht geschrieben, der göttliche Schöpfer habe die Erde in der ersten Woche erschaffen und sie entsprechend geformt – danach ordnete er die Sintflut an. Wie gelangten dann aber die Meeresmuscheln in die Gesteine , die ja bereits erschaffen waren, als die Fluten kamen? Infolge der Sintflut konnten Muschelschalen auf Bergen
abgelagert
werden, nicht jedoch in deren Gesteinskörper
hineingelangen
. Dieses »biblische Dilemma« wird in der lesenswerten Monographie von Cutler (2003) im Detail erörtert.
Nach christlicher Dogmatik ist die Welt vor einigen Jahrtausenden erschaffen worden. Zu Lebzeiten Stenos glaubte man an die Berechnung des bereits zitierten Erzbischofs James Ussher: Als Tag der Welt-Erschaffung nannte Ussher den 23. Oktober 4004 v. Chr. – der blaue Planet war somit um 1670 »etwa 5674 Jahre alt«. Wir wollen nach diesem Exkurs auf Stenos Hauptleistungen zurückkommen.
In seiner Schrift
De solido
(1669) formulierte Steno das »Prinzip der Überlagerung« (
Lagerungsgesetz
). Dieses besagt, |196| dass Sedimentgesteine schichtweise übereinander gelagert sind: die unterste Schicht wurde zuerst und die oberste zuletzt abgelagert – dies war eine wenig überraschende Feststellung. Bemerkenswert war allerdings Stenos allgemeine
Schlussfolgerung
: Basierend auf den unteren (älteren) und oberen (jüngeren) Sedimentschichten könne man nach Analyse der eingeschlossenen Fossilien die Geschichte der Erde ablesen. Mit den Schriften von Steno wurde somit die wissenschaftliche Erforschung von Sedimentformationen und deren Einlagerungen begründet (
Biostratigraphie
). Hiermit war die Basis für die Paläontologie
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