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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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brauchte ungewöhnlich große Dosen von Pervitin und Benzedrin, um für einige Stunden am Tag wenigstens den Zustand des Halbschlummers zu erreichen. Die Belebungsmittel waren rezeptpflichtig, und da Schnakenbachsie nicht mehr ausreichend bekam, bestürmte er Behude um Verschreibungen, oder er versuchte, als begabter Chemiker, sich die Pülverchen herzustellen. Aus seiner Stellung wegen Schlafsucht entlassen, sein weniges Geld für wissenschaftliche Versuche ausgebend, wohnte der verarmte Schnakenbach im Keller des Hauses einer Baronin, einer Patientin von Behude, die, seit sie vor Jahren eine Vorladung zum Arbeitsamt erhalten hatte, an der Vorstellung litt, zum Straßenbahndienst eingezogen zu sein, und die nun jeden Tag in aller Frühe ihre schöne Wohnung verließ und acht Stunden mit einer bestimmten Linie der Straßenbahn sinnlos durch die Stadt fuhr, was sie täglich drei Mark kostete und sie, was schlimmer war, »enervierte«, wie sie zu Behude sagte, den sie um Dienstbefreiungsatteste anging, die er ihr aber nicht ausstellen konnte, da sie ja zu keinem Dienst verpflichtet war. Behude versuchte der Patientin durch eine Analyse ihrer frühen Kindheit das Straßenbahnfahren auszureden. Er hatte im Leben der Achtjährigen inzestuöse, dem Vater, einem kommandierenden General, geltende und auf einen Trambahnschaffner übertragene Neigungen festgestellt. Aber Behudes Aufdeckung der verschütteten Vergangenheit hatte die Baronin erst einmal ihren imaginären Dienst versäumen lassen, wodurch sie, wie sie Behude erzählte, große Unannehmliehkeiten gehabt hatte. Behude fand Schnakenbach nicht in seinem Keller. Er fand ein ungemachtes, kohlenstaubverschmutztes Lager, er fand des Gewerbelehrers zerrissene Jacken und Hosen auf dem Boden liegen, er sah auf einem Gartentisch die Gläser, Retorten und Kocher der Giftküche stehen, und überall, auf Bett, Boden und Tisch verstreut, fand er Zettel mit chemischen Formeln, chemische Strukturzeichnungen, die wie stark vergrößerte Mikroaufnahmen von Krebsgeschwülsten aussahen, sie hatten etwas Wucherndes, gefährlich Krankes und immer Weiterfressendes, aus Punkten und Kreisen zweigten immer neue Punkte und Kreise ab, Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff teilten, vereinten undvermehrten sich in diesen Bildern aus Tintenstrichen und Klecksen und sollten mit Phosphor und Schwefelsäure Schnakenbachs Schlaf bannen und die ersehnte Belebungsdroge geben. Behude dachte, als er die Formelzeichnungen betrachtete, ›so sieht Schnakenbach die Welt, das All, so sieht er sich selbst, alles in seiner Vorstellung ist abstrakt und wächst aus den kleinsten Teilen zu gigantischen Rechnungen. Behude legte eine Packung Pervitin auf den Gartentisch. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er schlich sich aus dem Keller wie ein Dieb.
    Die Kellnerin räumte den Tisch ab. Frau Behrends Stammsitz im Domcafe war für heute frei. Mutter und Tochter waren gegangen. Sie hatten sich vor der Tür des Cafés im Schatten des Domturms getrennt. Was sie sich vielleicht sagen wollten, war ungesagt geblieben. Flüchtig hatten beide das Verlangen nach gegenseitiger Umarmung gespürt, aber nur kalt hatten sich ihre Hände für eine Sekunde gestreift. Frau Behrend dachte ›du hast es so gewollt, du mußt deinen Weg gehen, laß mich in Frieden‹, und das hieß ›stör mir mein Domcafe nicht, meine Ruhe nicht, meine Bescheidung nicht, meinen Glauben nichts und ihr Glaube war, daß anständige Frauen wie sie irgendwie erhalten werden mußten, daß die Welt niemals so aus den Fugen geraten konnte, daß nicht ihr der Nachmittagsplausch mit Damen ihrer Art als Trostpreis bleibe. Und Carla dachte ›sie weiß nicht, daß es ihre Welt nicht mehr gibt‹. Welche Welt aber gab es? Eine dreckige Welt. Eine ganz und gar gottverlassene Welt. Die Domuhr schlug eine Stunde. Carla mußte sich beeilen. Sie wollte, bevor Washington vom Baseballspiel nach Hause kam, ihre Sachen packen und in die Klinik gehen. Das Kind mußte weg. Washington war wahnsinnig, daß er sie bewegen wollte, sein Kind in die Welt zu setzen. Die andere Welt, die schöne bunte Welt der Magazine, der mechanischen Küchen, der Fernsehapparate und der Wohnung im Hollywoodstil, paßte nicht zu diesem Kind. Aberwar es nicht schon gleichgültig? War nicht selbst dieses Kind, seine Geburt oder sein Tod, schon gleichgültig? Carla zweifelte jetzt, ob sie die schöne Traumwelt der amerikanischen Magazine jemals erreichen würde. Es war ein Fehler gewesen, sich mit

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