Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
hielt nichts von ihrem Leben, sie hätte ihr Leben gern verleugnet, sie litt es, sie führte es nicht, sie glaubte, sich entschuldigen zu müssen, und sie meinte die Entschuldigung der Zeit für sich zu haben, die Entschuldigung der unordentlich gewordenen Zeit, die Verbrechen und Schande gebracht hatte und ihre Kinder verbrecherisch und schändlich machte. Carla war keine Rebellin. Sie glaubte. An Gott? An die Konvention. Wo war Gott? Gott hätte vielleicht den schwarzen Bräutigam gebilligt. Ein Gott für alle Tage. Gott war aber schon bei ihrer Mutter nur ein Feiertagsgott gewesen. Carla war nicht zu Gott geführt worden. Man hatte sie bei der Kommunion nur bis zu seinem Tisch gebracht.
Sie wollte sie zu Gott führen. Emmi, die Kinderfrau, wollte das ihr anvertraute Kind zu Gott führen; sie sah es als die ihr von Gott gestellte Aufgabe an, Hillegonda, das Schauspielerkind, das Sündenkind, das Kind, um das sich die Eltern nicht kümmerten, in der Furcht vor Gott zu erziehen. Emmi mißachtete Alexander und Messalina; sie war bei ihnen angestellt und wurde von ihnen bezahlt, sehr gut bezahlt, aber sie mißachtete sie. Emmi meinte, das Kind zu lieben. Aber man durfte Hillegonda nicht Liebe, man durfte ihr nur Strenge zeigen, um sie der Hölle zu entreißen, der sie durch ihre Geburt schon verfallen war. Emmi sprach zu Hillegonda vom Tod, um ihr die Nichtigkeit des Lebens zu beweisen, und sie führte sie in die hohen dunklen Kirchen, um ihren Sinn auf die Ewigkeit zu lenken, aber die kleine Hillegonda schauderte vor dem Tod und fror in den Kirchen. Sie standen in der Seitenkapelle des Doms vor dem Beichtstuhl. Im Pfeiler, den Hillegonda betrachtete, war ein Bombenriß notdürftig mit schlechtem Mörtel verschmiert und zog sich wie eine kaum vernarbte Wunde bis zur steinernenBlätterkrone des Pfeilerhauptes hin. ›Das Kind zu Gott führen ‹, das Kind mußte zu Gott geführt werden. Emmi sah, wie klein, wie hilflos das Kind neben dem wuchtigen mörtelverschmierten Pfeiler stand. Gott würde Hillegonda helfen. Gott würde ihr beistehen. Er würde sich der Kleinen und Hilflosen, der unschuldig schuldig mit Sünde Beladenen annehmen. Hillegonda sollte beichten. Noch vor dem Beichtalter sollte sie beichten, um von den Sünden losgesprochen zu werden. Was sollte sie beichten? Hillegonda wußte es nicht. Sie fürchtete sich nur. Sie fürchtete sich vor der Stille, sie fürchtete sich vor der Kälte, vor der Größe und Erhabenheit des Kirchenschiffs, sie fürchtete sich vor Emmi und vor Gott. »Emmi Hand halten.« Die Sünden der Eltern? Was waren das für Sünden? Hillegonda wußte es nicht. Sie wußte nur, daß ihre Eltern Sünder und von Gott verstoßen waren. ›Schauspielerkind, Komödiantenkind, Filmkinds dachte Emmi. - »Ist Gott böse?« fragte das Kind.
»Prächtig! Großartig! Hervorragend!« Der Erzherzog wurde ausgezogen, das goldene Vlies wurde abgelegt. »Prächtig! Großartig! Hervorragend!« Der Produktionschef hatte die Muster gesehen: die Aufnahmen des Tages waren prächtig, großartig und hervorragend. Der Produktionschef lobte Alexander. Er lobte sich selbst. Ein SUPERFILM . Der Produktionschef fühlte sich als Schöpfer eines Kunstwerkes. Er war Michelangelo, der mit der Presse telefonierte ERZHERZOG LÄUFT AN GROSZ-STAFFEL IM EINSATZ . Alexander spürte Sodbrennen. Die Schminke war vom Gesicht gewischt. Er sah wieder käsig aus. Wo mochte Messalina sein? Er hätte sie gern angerufen. Er hätte ihr gern gesagt: »Ich bin müde. Heute abend gibt es kein Fest, keine Gesellschaft. Ich bin müde. Ich will schlafen. Ich muß schlafen. Ich werde schlafen. Verdammt noch mal. Ich werde schlafen!« Am Telefon hätte er es gesagt. Er hätte Messalina gesagt, wie müde,leer und elend er sich fühlte. Am Abend würde er es nicht sagen.
Sie saß in der Bar des Hotels und trank einen Pernod. Pernod, das war so verrucht, das pulverte auf: ›Pernod Paris, Paris die Stadt der Liebe, ÖFFENTLICHE HÄUSER GESCHLOSSEN, SCHÄDIGEN FRANKREICHS ANSEHEN.‹ Messalina blätterte in ihrem Notizbuch. Sie suchte nach Adressen. Sie brauchte Frauen für den Abend, Mädchen, hübsche Mädchen für ihre Gesellschaft. Daß Emilia kommen würde, war unwahrscheinlich. Philipp würde sie nicht kommen lassen. Auch die kleine Grüne würde er nicht zu ihr bringen, die kleine reizende Amerikanerin mit den grünen Augen. Man mußte aber Mädchen auf dem Fest haben. Wer sollte sich entkleiden? Nur die Epheben? Es gab auch noch
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