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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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ergeben, nur Schande und Verlorensein, Schande der Zeit und Verlorensein in Unordnung, Irrwegen und moralischen Abgründen, und während ihr so Unangenehmes widerfuhr und die Schande sie streifte - hätte sie nicht zu Hause bleiben können? in der Mansarde wäre es friedlich gemütlicher gewesen, in die Mansarde wäre Carla nicht gekommen war Besuch aus Amerika dagewesen, ein Verwandter, der Sohn von Wilhelm, der ihr Pakete geschickt hatte. Was war es für ein Pech! Die Lebensmittelhändlerin erzählte es ihr. Sie hatte Frau Behrend in den Laden gewinkt. Der junge Kirsch war dagewesen. Er hatte von den Paketen gesprochen. Und die Händlerin, das klatschsüchtige mißgünstige Weib - oh, Frau Behrend sah es ihr an, sie kannte sich aus -, die hatte natürlich alles ausgeschwätzt, hatte von Carla erzählt und von ihrem Neger, hatte sicher alles erzählt, was Frau Behrendihr erzählt hatte, und dabei waren sie drüben in Amerika so streng mit den Negern, RASSENSCHANDE, ARISCHER NACHWEIS , ob Neger oder Jude, es war dasselbe, daß Carla das tun mußte, nie war so etwas vorgekommen in ihrer Familie, der Ariernachweis war lückenlos gewesen, und nun diese Schande! »Er erwartet Sie im Bräuhaus«, sagte die Händlerin. Im Bräuhaus? Das war doch Ausrede, Flucht und Abwendung. Der junge Kirsch kam von Amerika gereist, um Frau Behrend zu besuchen, um die deutsche Verwandte zu sehen, und dann bestellte er sie ins Bräuhaus. Das stimmte doch nicht! Die Händlerin wußte es! Sie hatte ihr den reichen amerikanischen Verwandten nicht gegönnt. Alle Amerikaner waren reich. Alle weißen Amerikaner waren reich. Die Händlerin hatte ihr schon die Lebensmittelpakete nicht gegönnt. Der junge Kirsch war sicher schon abgereist, war enttäuscht zurückgereist in den Reichtum und in die Anständigkeit Amerikas. Plötzlich gab Frau Behrend Carla die Schuld am Verschwinden des jungen Kirsch. Der junge Kirsch war vor der Unmoral geflohen, er war davongelaufen vor der Schande und der Verkommenheit. Er hatte sich von Carlas Verkommenheit und Schande zurückgezogen. Er hatte sich mit dem Reichtum Amerikas von der alten in Schande und Verkommenheit gesunkenen Familie in Deutschland losgesagt. Carla war schuld; sie allein war schuld. Die Händlerin hatte recht getan, als sie es erzählte. Die Händlerin war eine brave Frau. Die Händlerin gehörte zu den anständigen Leuten. Frau Behrend würde es auch erzählt haben, wenn sie eine solche Schande von jemandem gewußt hätte. Sie beugte sich weit über den Ladentisch. Ihre Brust streifte die Käseglocke, unter der ein Mainzer Handkäse langsam zerfloß. Frau Behrend flüsterte: »Sie haben es ihm gesagt?« - »Was denn?« fragte die Händlerin. Sie stemmte die Arme auf und blickte Frau Behrend herausfordernd an. Sie dachte ›paß auf, daß du bei mir noch deinen Zucker kriegst‹. Frau Behrend wisperte: »Das mit Carla.« Die Händlerin richtete ihren strengen entrüstetenBlick auf Frau Behrend, den Blick, mit dem sie schon viele Kunden gebändigt hatte, arme Kunden, Markenkunden, Normalverbraucher. ›Denkt ja nicht es könnte nicht wiederkommen, BAUERNVERBAND GEGEN NEUE BEWIRTSCHAFTUNG, GEWERKSCHAFTEN ERWÄGEN KONTROLLE DER WICHTIGSTEN NAHRUNGSMITTEL. ‹ Die Händlerin sagte: »Was meinen Sie, Frau Behrend, wo werd ich denn!« Frau Behrend richtete sich wieder auf. Sie dachte ›sie hat es ihm erzählt, natürlich hat sie es ihm erzählte Die Händlerin lüftete die Käseglocke; die Zersetzung war schon fortgeschritten; ein Fäulnisgestank erhob sich.
    Philipp dachte an die Oderbrücke. Es war eine Brücke unter Glas. Der Zug fuhr über die Brücke wie durch einen gläsernen Tunnel. Die Reisenden erbleichten. Das Licht fiel wie durch Milch gefiltert in den Tunnel; aus der Sonne wurde ein blasser Mond. Philipp rief: »jetzt sind wir unter der Käseglocke!« Philipps Mutter seufzte: »Wir sind wieder im Osten.« Die Brücke über die Oder war für Philipps Mutter der Übergang vom Westen zum Osten. Sie haßte den Osten. Sie seufzte, weil sie im Osten leben mußte, fern vom Glanz der Hauptstadt oder von den Festen des südlichwestlichen Faschings. Für Philipp bedeutete der Osten das Kinderland; er bedeutete Winterfreuden, die Katze am Ofen, Bratäpfel im Rohr; er bedeutete Frieden, er bedeutete Schnee, er bedeutete schönen, sanften, stillen, kalten Schnee vor dem Fenster. Philipp liebte den Winter. Doktor Behude strengte sich an, eine Glocke aus Optimismus und Sommerfreuden über Philipp zu

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