Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
fragte. Wenn man nach ihm rief, wollte man etwas von ihm; man wollte dann immer etwas Unangenehmes von ihm. Jetzt brachte sein Sterben die ganze Stadt in Aufruhr. Der alte Dienstmann hatte das nicht gewollt. Er kam noch einmal zu sich. Er sagte: »Es war der Reisende.« Er sagte es nicht, um anzuklagen. Er war froh, daß es der Reisende gewesen war. Die Schuld war beglichen. Der Priester sprach die Absolution. Emmi bekreuzte sich und murmelte ihr Vergib-uns-unsere-Sünden. Sie war eine grimmige kleine Gebetsmühle. Hillegonda überlegte: da war ein alter Mann; er sah lieb aus; er war tot; der Tod sah lieb aus; der Tod war gar nicht zu fürchten; er war lieb und still; aber Emmi meinte, der alte Mann sei in Sünden gestorben und Sünden müßten ihm vergeben werden; es schien Emmi noch garnicht sicher zu sein, daß dem alten Mann seine Sünden vergeben würden; Gott war noch nicht entschlossen, sie zu vergeben; er würde die Schuld bestenfalls gnadenweise verzeihen; Gott war sehr streng; es gab kein Recht vor Gott; man konnte sich auf nichts vor Gott berufen, alles war Sünde; aber wenn alles Sünde war, dann war es doch ganz gleich, was man tat; wenn Hillegonda schlimm war, dann war es Sünde, aber wenn sie brav war, dann blieb es immer noch Sünde; undwarum war der Mann so alt geworden, wenn er ein Sünder war; warum hatte Gott ihn nicht früher schon gestraft, wenn er ein Sünder war; und warum sah der alte Mann so lieb aus? man konnte also verbergen, daß man ein Sünder war; man sah es keinem an, wer er war; man konnte keinem trauen. Und wieder regte sich bei Hillegonda ein Mißtrauen gegen Emmi: konnte man Emmi trauen, der frommen betenden Emmi, war nicht die Frömmigkeit vielleicht eine Maske, die den Teufel verbarg? Wenn Hillegonda nur mit ihrem Vater hätte darüber reden können, aber der Vater war so dumm, er sagte, daß es keine Teufel gebe, vielleicht meinte er auch, daß es keinen Gott gebe: oh, er kannte Emmi schlecht, es gab den Teufel. Man war ihm immer ausgeliefert. Die vielen Polizisten: waren das nun die Polizisten Gottes oder die Polizisten des Teufels? Sie holten den toten alten Mann, um ihn zu bestrafen; Gott wollte ihn bestrafen, und der Teufel wollte ihn bestrafen. Es kam am Ende auf dasselbe raus. Es gab keinen Ausweg für den toten alten Mann. Er konnte sich nicht verbergen. Er konnte sich nicht wehren. Er konnte nicht mehr davonlaufen. Hillegonda tat der alte Mann leid. Er konnte doch garnichts dafür. Hillegonda trat zu dem toten Josef und küßte ihm die Hand. Sie küßte die FI and, die so viele Koffer getragen hatte, eine runzelige Hand mit Rillen voll Erde, voll Schmutz, voll Krieg und Leben. Der Priester fragte: »Du bist seine Enkelin?« Hillegonda brach in Tränen aus. Sie barg ihren Kopf in der Soutane des Priesters und schluchzte bitterlich. Emmi unterbrach ihr Gebet und sagte ärgerlich: »Sie ist ein Schauspielerkind, Hochwürden. Lüge, Verstellung und Komödie liegen ihr im Blut. Strafen Sie das Kind, retten Sie seine Seele!« Aber noch ehe der Priester, der erschrocken aufhörte, Hillegonda zu streicheln, der Kinderfrau antworten konnte, erhob sich unter Josefs Spitalbett und Totenbahre eine Stimme. Odysseus' Musikkoffer, der unter dem Bett abgestellt war und eine Weile geschwiegen hatte, sprach wieder. Er sprach diesmal mit einer englischenStimme, weich, leise, schwingend, eine schöne, eine gebildete, eine etwas gezierte Oxfordstimme, die Stimme eines Philologen, und sie wies auf Edwins Bedeutung und seinen Vortrag im Amerika haus hin. Die Stimme schilderte es als ein Glück für Deutschland, daß Mister Edwin, ein Kreuzfahrer des Geistes, in die Stadt gekommen sei, um hier für den Geist, die Tradition, für die Unvergänglichkeit des Geistes, für das alte Europa zu zeugen, das seit den Tagen der französischen Revolution, die Stimme zitierte Jacob Burckhardt, in seiner gesellschaftlichen und geistigen Ordnung erschüttert und in einem Zustand des andauernden Zuckens und Bebens sei. War Edwin gekommen, die Erschütterung zu bannen, die Unordnung zu ordnen und, freilich im Sinne der Tradition, neue Tafeln eines neuen Gesetzes zu errichten? Der Priester, der Josefs Leben überdachte, den die Unruhe bewegte, die der Tod des alten Dienstmannes im Sprengel hervorrief, und der seltsam berührt war von der finsteren Frömmigkeit der Kinderfrau, von ihrem jeder Wärme, jeder Freude baren steinernen Gesicht und gerührt vom Schluchzen des kleinen Mädchens, dessen Tränen in den
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