Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
Vom Netzwerk:
Schoß seines Priesterkleides fielen, der geistliche Herr hörte beiläufig der englischen Stimme zu, der Stimme aus dem Musikkoffer unter dem Totenbett, und er hatte die Empfindung, die Stimme spreche von einem falschen Propheten.
    Schnakenbach, der Schläfer, der entlassene Gewerbelehrer, der nicht genug gebildete Einstein, hatte den Nachmittag im Lesesaal der Amerikanischen Bibliothek verbracht. Er hatte sich im Halbschlaf zum Amerika haus geschleppt und war, wie von einem Engel behütet, noch einmal den Straßenbahnen, den Automobilen und den Radfahrern entgangen. Im Lesesaal der Bibliothek hatte er alle erreichbaren chemischen und pharmakologischen Publikationen um sich aufgestapelt. Er wollte sich über den neuesten Stand der Forschung in Amerika unterrichten; er wollte sehen, wie weitsie in dem großen Amerika mit der Herstellung schlafhindernder Mittel vorangekommen seien. In Amerika schien es viele Schlaf süchtige zu geben. Die Amerikaner beschäftigten sich eingehend mit dem Problem, wach zu bleiben. Schnakenbach lernte von ihnen. Er machte sich Notizen. Er schrieb und zeichnete mit winziger Schrift Formeln und Strukturen auf; er rechnete; er beachtete den Spiegel der Moleküle; er bedachte, daß es linksdrehende und rechtsdrehende Verbindungen gab und daß er herausfinden mußte, ob sein Leben, dieser Teil des allgemeinen Lebens, diese Ich denkende Zusammensetzung chemischer Kräfte, die er, Schnakenbach, für eine Weile war, bevor er wieder in die große Retorte getan wurde, sich nach links oder nach rechts drehe. Bei dieser Überlegung übermannte ihn sein Feind, sein Leiden, der Schlaf. Man kannte Schnakenbach im Lesesaal. Man störte seinen Schlaf nicht; man entriß ihn nicht seinem Feind. Die Bibliothekarin hatte seltsame Kunden. Der Lesesaal übte eine ungeheure Anziehungskraft auf Obdachlose, Wärmeschinder, Sonderlinge und Naturmenschen aus. Die Naturmenschen kamen barfuß, in handgewebtes Linnen gehüllt, mit langem Haupthaar und wildem Bart. Sie verlangten Werke über Hexen und böse Blicke, Kochbücher für Rohkostspeisen, Broschüren über das Leben nach dem Tode und über die Übungen indischer Fakire, oder sie vertieften sich in die letzten Veröffentlichungen der Astrophysik. Sie waren kosmologische Geister und knabberten Wurzeln und Nüsse. Die Bibliothekarin sagte: »Ich erwarte immer, daß sich einer bei mir die Füße wäscht; aber sie waschen sich nie.« Die Amerikanische Bibliothek war eine herrliche Einrichtung. Ihre Benutzung war völlig kostenlos. Die Bibliothek stand jedermann offen, fast war sie Washingtons Inn, fast das Lokal, das der Neger und amerikanische Bürger Washington Price in Paris eröffnen wollte, das Lokal, in dem niemand unerwünscht ist.
    Schnakenbach schlief. Während er schlief, füllte sich der große Vorlesungssaal des Hauses. Viele kamen, um Edwin zu hören. Studenten kamen, junge Arbeiter kamen, ein paar Künstler kamen, die aus existentiellen Gründen Vollbarte trugen und ihre Baskenmützen nicht vom Kopf nahmen, es kam die Philosophieklasse des Priesterseminars, Bauerngesichter, die sich zum Geist, zur Strenge oder zur Einfalt wandelten, es kamen zwei Straßenbahnschaffner, ein Bürgermeister und ein Gerichtsvollzieher, der Literaten zu seiner Klientel zählte und so auf die schiefe Bahn geraten war, und außerdem kamen sehr viele gutangezogene und wohlgenährte Leute. Edwins Vortrag war ein gesellschaftliches Ereignis. Die gutangezogenen Leute waren beim Rundfunk oder beim Film angestellt, oder sie arbeiteten in der Reklamebranche, soweit sie nicht das Glück hatten, Volksvertreter, höherer Ministerialbeamter, gar Minister selbst oder Besatzungsoffizier und Konsularagent zu sein. Sie alle waren an Europas Geist interessiert. Die Kaufleute der Stadt schienen am Geiste Europas weniger interessiert zu sein; sie hatten keinen Vertreter geschickt. Erschienen jedoch waren die Modeschöpfer, feminine wohlriechende Herren, die ihre Vorführpuppen mitgebracht hatten, schöngewachsene Mädchen, die man ihnen unbesorgt anvertrauen durfte. Behude hatte sich zu den Priestern gesetzt. Es war eine kollegiale Geste. Er dachte ›wir können jederzeit psychiatrischen und geistlichen Beistand leihen, nichts kann passieren‹. Messalina und Alexander hielten Hof. Sie standen in der Nähe des Podiums und wurden von den Pressephotographen mit Blitzlicht beleuchtet. Jack war bei ihnen. Er hatte eine verdrückte amerikanische Offizierssommerhose und einen buntgestreiften

Weitere Kostenlose Bücher