Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
Vom Netzwerk:
und Lob und Tadel an den französischen Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts wenden, aber leider drang statt der Worte nur Geräusch zu seinen Zuhörern, ein Gurgeln und Knacken und Raspeln wie von Jahrmarktspritschen. Edwin, am Lesepult, merkte zunächst nicht, daß die Lautsprecheranlage des Saales in Unfunktion geraten war. Er spürte Unruhe im Raum und ein der geistigen Konzentration ungünstiges Klima. Er sprach noch ein paar Worte von der Bedeutung der Halbinsel, die dem eurasiatischen Kontinent vorgestreckt liegt, als ihn Scharren und Rufe, lauter und deutlicher zu sprechen, unterbrachen. Edwin war wie einem Hochseilgänger zumute, der mitten auf dem Seil merkt, daß er nunmehr weder vorwärts noch rückwärts gehen kann. Was wollten die Leute? Waren sie gekommen, ihn zu verhöhnen? Er schwieg und hielt sich am Pult fest. Man rebellierte. Die Technik rebellierte gegen den Geist, die Technik, das vorlaute, entartete, schabernacksüchtige, unbekümmerte Kind des Geistes. Ein paar Eifrige stürzten vor, um die Mikrophone zu verrücken. Der Fehler lag aber an der Lautsprecheranlage des Hauses. ›Ich bin hilflos‹, dachte Edwin, ›wir sind hilflos, ich habe mich auf diesen dummen und bösen Sprechtrichter verlassen, hätte ich ohne diese Erfindung die mich nun lächerlich macht vor sie hin treten können? nein, ich hätte es nicht gewagt, wir sind keine Menschen mehr, keine ganzen Menschen, ich hätte nie wie Demosthenes direkt zu ihnen sprechen können, ich brauche Blech und Draht die meine Stimme und meine Gedanken wie durch ein Sieb pressen.‹ Messalina fragte: »Siehst du Philipp?« - »Ja«, sagte Alexander, »ich muß mit ihm über das Manuskript reden. Ihm wird nichts eingefallen sein.« -»Quatsch«, sagte Messalina, »er schreibt doch nie was. Aber das Mädchen. Die Niedliche. Eine Amerikanerin. Die verführt er. Was sagst du nun?« - »Nichts«, sagte Alexander. Er gähnte. Er würde einschlafen. Mochte doch Philippverführen, wen er Lust hatte. ›Er muß schön potent sein‹, dachte Alexander. »Idiot«, flüsterte Messalina. Das Krachen in der Lautsprecheranlage des Hauses war auch im Lesesaal zu hören und hatte Schnakenbach geweckt. Auch er hatte zu Edwins Vortrag gehen wollen, auch er interessierte sich für den europäischen Geist. Er sah, daß es schon spät war und daß der Vortrag schon begonnen hatte. Er taumelte hoch und torkelte in den Saal. Irgend jemand hielt Schnakenbach für den erwarteten Haustechniker, der wohl im Keller geschlafen hatte, und reichte ihm versehentlich das Mikrophon. Schnakenbach sah sich plötzlich vor eine Zuhörerschaft gestellt; er glaubte, schlafbenommen wie er war, vor der Klasse zu stehen, die er geleitet hatte, bevor er sein Amt als Gewerbeschullehrer aufgeben mußte, und so schrie er in das Mikrophon die große Sorge, die ihn erfüllte: »Schlaft nicht! Wacht auf! Es ist Zeit!«
    Es war Zeit. Heinz beobachtete den Platz zwischen dem Bräuhaus und dem Club der Negersoldaten. Es war viel Polizei auf dem Platz; es war viel zuviel Polizei auf dem Platz. Die Wache der Militärpolizei vor dem Club war verstärkt worden. Die Militärpolizisten waren besonders große, besonders schöngewachsene Neger. Sie trugen weiße Gamaschen, weiße Koppel und weiße Handschuhe. Sie sahen wie nubische Legionäre des Cäsar aus. Heinz wußte noch immer nicht, wie er es anstellen sollte. Das beste würde es sein, die Dollar zu nehmen und in die Ruinen zu laufen. In den Ruinen würde der amerikanische Junge ihn nicht finden. ›Aber wenn er den Hund sehen will? natürlich wird er den Hund sehen wollen, bevor er mit seinem Schein rausrückt.‹ Es war dumm, daß der Hund weggelaufen war. Es konnte das Geschäft gefährden. Aber es wäre gelacht, wenn Heinz sich deshalb schon vom Geschäft zurückzöge, weil der Hund ausgekniffen war. Heinz hatte sich gut versteckt. Er stand im Eingang der Broadway-Bar. Die Bar war geschlossen. Der Eingang war dunkel. Der Besitzer der Barhatte es vorgezogen, zum wirklichen Broadway zu fliehen. In der neuen Welt war Sicherheit. In der alten Welt konnte man sterben. In der neuen Welt konnte man auch sterben, aber man starb in größerer Sicherheit. Der Besitzer der Broadway-Bar hatte in Europa Ängste, Schulden, Finsternis und nackte Mädchen zurückgelassen. Er hatte auch Gräber zurückgelassen, ein großes Grab, in dem seine erschlagenen Verwandten lagen. Die Bilder der nackten Mädchen klebten in der Dunkelheit des Ganges vergessen und

Weitere Kostenlose Bücher