Tausendschön
Ehefrau nie eigene Kinder bekamen. Nach drei Fehlgeburten folgten Jahre der erfolglosen Versuche, bis sie sich eines Tages geschlagen gaben und sich eingestanden: Es würde keine Kinder geben. Fast war es ein Segen gewesen, denn zu der Zeit hatten sie längst aufgehört, sich aufrichtig welche zu wünschen.
Und dann war Fredrika in sein Leben getreten. Und eigentlich hatte er auch sie im Stich gelassen.
Spencer bekam einen Kloß im Hals, wenn er an sie dachte. Diese schöne und intelligente Frau, die jeden haben könnte, wenn sie nur an sich glauben würde, und die dennoch zu ihm zurückgekehrt war.
Jedes Mal. Jedes Mal ist sie zu mir zurückgekommen.
Vielleicht hätte er Nein sagen sollen. Aber das hätte sie auch tun können. Und sie hätte einfach nicht zurückkommen müssen.
Wir haben es einfach nicht geschafft, dachte er. Wir haben es nicht geschafft, Nein zu sagen – zu dem, was wir beide so lange durchlebt hatten: Einsamkeit.
»Ich vermisse meine Tochter schon seit Jahren nicht mehr«, sagte Therese Björks Mutter schlicht.
Als wäre es das Natürlichste der Welt.
Als gäbe es eine Grenze, wo die Elternschaft zu Ende ist, und etwas anderes kommt. Fremdheit und Feindschaft.
» Ich liebe sie immer noch«, fuhr sie sachlich fort, » und ich weine abends, weil sie nicht mehr bei mir ist. Aber ich vermisse sie nicht mehr. Das hat sie mir unmöglich gemacht.«
Eigentlich wäre Fredrika lieber zu Ingrid Björk gefahren, um sie persönlich zu treffen. Im Nachhinein fühlte es sich nicht gut an, dem Impuls gefolgt und sich aufs Telefon gestürzt zu haben. Doch Ingrid Björks Tonfall erweckte nicht den Eindruck, als würde ihr das missfallen. Sie konnte ein Gespräch über den wichtigsten Menschen in ihrem Leben am Telefon gut führen.
Das könnte ich nicht, verdammt, dachte Fredrika müde. Ich kann momentan sowieso mit gar nichts umgehen.
» Wann fing es an schiefzugehen?«
Ingrid Björk dachte einen Moment lang nach. » Wohl in der Mittelstufe«, sagte sie dann.
» So früh schon?«
» Ja, doch, ich glaube, so war es. Therese war eine rastlose Seele, sie konnte einfach nicht zur Ruhe kommen. Ihr Vater und ich haben versucht, so gut es ging, sie zu unterstützen, doch es reichte scheinbar nicht aus.«
Sie fuhr fort, von ihrer Tochter zu erzählen, von dem Kind, das ein Mädchen wurde, von dem unbändigen Teenager, der sich weigerte, Verantwortung zu übernehmen, und von dem gesunden Körper, der von kranken Gedanken heimgesucht wurde. Vom ersten Freund, der sie auf Abwege brachte, und von der ersten Fahrt in die Jugendpsychiatrie. Von den Jahren mit unterschiedlichen Psychologen und Therapeuten, die am Ende weder die Tochter noch die Ehe der Eltern hatten retten können. Und am Ende versuchte sie zu beschreiben, wie sie einen Kampf gegen die Zeit geführt hatte, um die Tochter vor dem endgültigen Untergang zu retten, dann aber begreifen musste, dass das Projekt zum Scheitern verdammt war und dass die Tochter ihr nie wieder gehören würde.
» So sehe ich das«, sagte sie ernst. » Sie gehört nicht mehr mir, sondern den Drogen.«
» Aber sie ist bei Ihnen gemeldet«, sagte Fredrika.
» Ja, ist sie, aber das spielt keine Rolle. Ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sie hat aufgehört, sich zu melden, als sie kapierte, dass es kein Geld mehr gab.«
Die Worte rissen und zerrten an Fredrika. Dass ein Kind aufgegeben wurde, obwohl es doch noch am Leben war, passte nicht in ihre Vorstellungswelt.
» Aber warum rufen Sie denn an und fragen mich das alles?«
Vorsichtig zog Fredrika die Mappe hervor, die ganz unten im Stapel auf ihrem Schreibtisch lag, die Kopie dessen, was zunächst als Obduktionsprotokoll von Karolina Ahlbin angesehen worden war.
» Weil ich fürchte, dass ich weiß, wo sich Ihre Tochter in diesem Moment befindet«, sagte sie mit belegter Stimme.
In der Löwengrube herrschte gedämpfter Aufruhr, als Fredrika als Letzte von allen durch die Tür huschte und am Tisch Platz nahm.
» Ich möchte, dass wir vor dem Verhör mit Johanna Ahlbin gemeinsam die größten Lücken und Fragezeichen auflisten, die sie klären könnte«, sagte Alex. » Und ich möchte, dass wir gemeinsam darüber nachdenken, worauf wir bei dem Verhör besonders achten müssen und was wir auf keinen Fall offenlegen dürfen.«
» Ich habe die Frau identifizieren können, die mit Karolina Ahlbin verwechselt wurde«, sagte Fredrika mit fester Stimme, denn sie fürchtete, dass Alex im selben Tempo weitermachen
Weitere Kostenlose Bücher