Tausendschön
doch? Ihre Gedanken rasten, jagten einander wie Wespen mit Schnelligkeit und Energie in ihrem müden Kopf.
Sie schrieb eine knappe Mail an ihn: » Brauche dringend Hilfe. Melde dich bei der schwedischen Botschaft in Bangkok, und bitte darum, meine Personenunterlagen mit einem Auszug aus dem Passregister dorthin faxen zu dürfen.«
Nachdem sie fertig war, hatte sie eine Eingebung, die sie später, als alles vorüber war, nicht mehr erklären konnte. Sie rief die Website einer Abendzeitung auf. Vielleicht wollte sie sich ganz kurz ihrem Heimatland ein wenig näher fühlen. Vielleicht meinte sie, es würde das Gefühl, ein Mensch auf der Flucht zu sein, von ihr nehmen.
Doch es kam ganz anders, denn das Erste, was sie erfuhr, als der Computer die Website geladen hatte, war, dass ihre Eltern vor drei Tagen erschossen aufgefunden worden waren und dass die Polizei nicht ausschloss, dass die Tat von einer dritten Person begangen sein könnte.
Mechanisch – überzeugt davon, dass nichts von dem, was sie da las, wahr sein konnte – klickte sie sich durch die verschiedenen Artikel. » Möglicher Selbstmord«, » schon früher psychische Probleme«, » bestürzt über den Tod der Tochter«. Ihr Gehirn hörte auf zu funktionieren. Sie wechselte die Website, wählte eine andere Zeitung. Dann noch eine. Und noch eine. In mehreren Artikeln wurde Ragnar Vinterman zitiert. Er sei betroffen und verzweifelt, meinte, die Kirche habe zwei ihrer besten Leute verloren.
Der Schrei, der herauswollte, blieb ihr im Hals stecken, weigerte sich, den Körper zu verlassen. Aber die Luft war weg, und der Raum fing an zu kreisen. Es schien keinen Zweifel mehr zu geben. Die Bilder und die Texte trafen sie wie der Kühler eines Lastwagens, der das rettende Stoppschild überfahren hatte.
Angst kroch in ihren Körper und ließ sie trotz der Hitze vor Kälte zittern.
Kümmere dich um mich, flehte sie in stiller Verzweiflung. Rette mich aus diesem Albtraum.
Einzelne Wörter aus Gebeten, die sie als Kind zusammen mit ihren Eltern gesprochen hatte, kamen ihr in den Sinn, und am liebsten wäre sie vor dem Computer auf die Knie gefallen.
» Weine nicht«, flüsterte sie sich selbst zu und spürte, wie ihre Wangen rot und die Augen feucht wurden. O großer Gott, bloß nicht anfangen zu weinen, sonst kannst du nie wieder aufhören.
Sie brauchte dringend frische Luft, rannte hinaus, um in der völlig überhitzten Großstadt zu atmen.
Weniger als eine Minute später war sie wieder im Café und setzte sich zurück an den Computer. Der Besitzer sah besorgt aus, sagte aber nichts. Sie las zwei weitere Artikel.
» Jakob Ahlbin soll im Lauf des Wochenendes von dem Tod seiner Tochter erfahren haben …« Sie schüttelte den Kopf. Unmöglich. So etwas passiert einfach nicht. Man verliert nicht auf einen Schlag seine gesamte Familie.
Auf zittrigen Beinen ging sie zu dem Cafébesitzer hinüber und bat um ein Telefon. Sofort. Emergency. Please hurry!
Er reichte ihr einen Hörer über den Tresen und bestand darauf, ihr beim Wählen behilflich sein zu dürfen.
Sie gab ihm die Telefonnummer, Ziffer für Ziffer. Die Nummer, die sie so lange nicht angerufen hatte, aber dennoch niemals vergessen würde.
Schwester, Schwester, allerliebste Schwester …
Ein Klingeln nach dem anderen. Danach der Anrufbeantworter und die Stimme, die sie an alles erinnerte, das sich in diesem Augenblick so ungeheuer weit entfernt anfühlte. Und dann konnte sie nicht mehr, die Tränen wollten nicht aufhören. Und zwischen all den Gedanken, die in ihrem Kopf kreisten, war ein einziger, der ihr entging. Der sagte, dass sie die Zeitung nicht richtig gelesen hatte und dass sie nicht gesehen hatte, wer da totgesagt worden war. Als das Pfeifen ertönte und sie ihre Mitteilung aufsprechen sollte, schluchzte sie laut vor Weinen. » Ach, bitte, bitte, geh ran, wenn du das hier hörst.«
Samstag, 1. März 2008
Stockholm
Die Einsicht, dass er alt wurde, kam mit der Nacht und ließ ihn früh erwachen. Er war noch nie von dieser Art Gedanken verfolgt worden, und deshalb wusste er auch nicht, wie er damit umgehen sollte. Es hatte damit angefangen, dass seine Ehefrau ihn darauf hinwies, dass er Furchen anstelle von Falten auf der Stirn bekommen hatte. Und dass die grauen Haarsträhnen immer heller geworden waren. Ein rascher Blick in den Spiegel hatte ihr Urteil bestätigt. Das Altern war eskaliert. Und mit dem Alter kam die Angst.
Er war sich schon immer in allem sehr sicher gewesen.
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