Tausendschön
dir besser gehen, wenn du wieder anfangen würdest zu spielen.«
Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen, und Fredrika versank in den Erinnerungen an das Leben vor dem Unglück.
» Nicht zu lange«, beeilte sich ihre Mutter zu sagen, » gar nicht viel, nur ein klein bisschen, damit du die Harmonie in dir wieder spürst. Du weißt doch, dass ich immer spiele, wenn mir das Schlafen schwerfällt.«
Es hatte eine Zeit gegeben, da waren solche Gespräche für Fredrika und ihre Mutter ganz selbstverständlich gewesen. Eine Zeit, in der sie gemeinsam Musik gemacht und die Weichen für Fredrikas Zukunft gestellt hatten. Doch das war damals gewesen, vor dem Unglück. Längst schon hatte ihre Mutter kein Recht mehr, mit Fredrika über das Spielen zu diskutieren, und das merkte sie auch jetzt wieder. Die Tochter schwieg. Deshalb entschied sich ihre Mutter, über etwas anderes zu reden. » Wir müssen ihn jetzt mal kennenlernen«, sagte sie. Bestimmt, aber auch bittend. Darum bittend, wieder ein Teil des Lebens der Tochter sein zu dürfen.
Fredrika war schockiert.
» Papa und ich wollen uns wirklich mit der Situation anfreunden, vor die du uns gestellt hast. Wir versuchen zu verstehen, wie du gedacht und geplant hast. Aber wir haben so sehr das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, Fredrika. Nicht nur, dass du über ein Jahrzehnt eine heimliche Beziehung mit diesem Mann gehabt hast. Du erwartest jetzt auch ein Kind von ihm.«
» Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, seufzte Fredrika.
» Aber ich weiß es«, sagte ihre Mutter entschieden. » Komm mit ihm zu uns. Morgen.«
Fredrika ahnte, dass sie Spencer nicht länger von ihrer Familie fernhalten konnte.
» Ich werde mit ihm sprechen, wenn er heute Abend kommt«, versprach sie. » Ich melde mich.«
Lange Zeit danach saß sie still auf dem Sofa und dachte über diese schicksalhafte Frage nach, die sie so lange verfolgt hatte. Was für einen Sinn hatte es eigentlich, sich in einen Mann zu verlieben, der einem niemals ganz gehören würde, der mehr als zwanzig Jahre älter war und der, ganz unabhängig davon, ob er verheiratet war oder nicht, sie lange bevor sie eines Tages ihr eigenes Leben fertig gelebt hätte, verlassen würde?
Mit der Dunkelheit, der Erschöpfung und der Langeweile kam plötzlich aus einem Raum, von dem sie meinte, ihn vor Jahrzehnten hinter sich geschlossen zu haben, eine Herausforderung herangekrochen.
Spiel mich, flüsterte eine Stimme. Spiel.
Hinterher konnte sie nicht mehr sagen, was der Antrieb gewesen war, dass sie am Ende vom Sofa aufgestanden, in den Flur gegangen war und zum ersten Mal, seit sie nach dem Unglück ihr Urteil erhalten hatte, die Violine herausgeholt hatte. Doch plötzlich stand sie da mit dem Instrument in Händen und spürte sein Gewicht – so wohlbekannt und so lange und zutiefst vermisst.
Das war alles, was ich je sein wollte.
Als Spencer einige Stunden später zu ihr kam, lag das Instrument wieder in seinem Kasten. Frisch gestimmt und gerade erst gespielt.
Sie holten ihn spät am Abend. Das war ihm aus seiner Vergangenheit vertraut. Die Fremden kamen mit der Dunkelheit und besaßen Schlüssel zu der Tür, die eigentlich nur ihm gehören sollte. Er erstarrte zwischen den Decken auf dem Bett, er konnte nirgends hin. Da hörte er die Stimme des Mannes, des Schweden, der so gut Arabisch sprach.
» Guten Abend, Ali«, sagte die Stimme. » Bist du wach?«
Natürlich war er wach. Wie viel hatte er eigentlich geschlafen, seit er den Irak verlassen hatte? Zusammengenommen wahrscheinlich weniger als zehn Stunden.
» Ich bin hier«, sagte er und stieg aus dem Bett.
Sie kamen alle auf einmal ins Zimmer. Die Frau war diesmal nicht dabei, es waren nur der Mann und noch zwei andere Männer, die Ali nicht kannte. Es war ihm peinlich, dass er nur eine Unterhose anhatte. Und Strümpfe, denn ihm war nachts so schrecklich kalt an den Füßen. Für den Zigarettenqualm in der Wohnung schämte er sich nicht einmal mehr. Von dem Geruch frisch gestrichener Wände, der ihm am ersten Tag in der Wohnung entgegengeschlagen war, war nichts mehr übrig.
» Zieh dich an«, sagte der Mann und lächelte. » Bis Sonntag wirst du woanders wohnen.«
Erleichterung breitete sich in ihm aus. Endlich würde er rauskommen, die Kälte an den Wangen spüren, frische Luft atmen. Und gleichzeitig erstaunte ihn die Nachricht, denn es hatte niemand etwas von einer neuen Wohnung gesagt.
Während er Jeans und Pullover überzog, sah er auf die Uhr. Es war
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